Manchmal scheint es, als entwickelte sich das Leben spiralförmig. Immer wieder begegnen uns die gleichen Themen und Erkenntnisse, um sich mit jeder Wiederholung, mit jeder Schleife noch ein bisschen tiefer in unser Bewusstsein zu verankern. Bis zu dem Moment, in dem wir eine Einsicht wirklich verinnerlicht haben. Sobald sie ein Teil von uns ist, geht sie nicht mehr verloren.
Jede tiefe Einsicht beginnt mit einem Impuls. Das erste Mal, wenn du einen dieser 60.000 täglichen Gedanken als besonders erlebst. Eine Erfahrung, die sich irgendwie anders anfühlt. Manchmal spürt man es bereits im Moment selbst, dass in diesem Moment eine wertvolle Erkenntnis steckt. In anderen Situationen erkennt man es erst in der Rückschau.
Im April 2019 hatte ich eine solche Erkenntnis: Alles im Leben hat seine Zeit. Wir können nichts erzwingen oder beschleunigen. Alles, was wir überhaupt machen können, ist uns in Geduld zu üben und auf das zu warten, was wir als den richtigen Moment bezeichnen. Gewöhnlich meinen wir damit, dass unser Handeln stimmig ist, der Situation angemessen und/oder sich für uns gut anfühlt. Was wir mit dem richtigen Moment in der Regel nicht meinen, ist, dass dieser Moment richtig ist im Sinne von korrekt. Denn gerade so, wie ein Gedanke ein Gedanke ist, ist ein Moment ein Moment. Und da es keinen grundsätzlich falschen Moment gibt, gibt es eben auch keinen richtigen.
Wenn wir auf die richtigen Momente unseres Lebens zurückschauen, bleibt oft nur unsere Erinnerung. Durch den Lauf der Zeit verblassen Empfindungen, Ereignisse verändern sich – vieles wird vergessen. Andere Erfahrungen bleiben hingegen als messerscharfes Bild in unserem Bewusstsein. Wieder einmal können wir feststellen, wie subjektiv unser Gehirn doch funktioniert.
Manchmal haben wir Glück und es gibt eine objektivere Gedankenstütze: Ein Foto, einen Gegenstand, eine Videoaufnahme. Dennoch ist es unsere Erinnerung, welche die materialisierte Gedankenstütze mit Bedeutung auflädt.
Im Oktober 2018 gab es einen dieser richtigen Momente in meinem Leben. Ich war auf dem Kongress Meditation & Wissenschaft, der alle zwei Jahre in Berlin stattfindet. In dieser Zeit hatte ich eine schmerzhafte Verletzung am Fuß und haderte lange mit mir, ob ich überhaupt hingehen sollte. Ich fand es auf eine Art widersprüchlich, verletzt auf einen Meditationskongress zu gehen, wobei doch gerade ein fürsorglicher Umgang mit sich selbst im Zentrum der Praxis steht – statt mit Disziplin und Strenge Aufgaben zu absolvieren. Was würde ein achtsamer Umgang mit sich selbst in so einer Situation wirklich bedeuten?
Nachdem ich lange darüber nachgedacht hatte, entschied ich schließlich teilzunehmen. Viel zu lange hatte ich mich auf zwei spannende Kongresstage mit Impulsen und Begegnungen mit anderen Meditationslehrer*innen gefreut und das Ticket mit viel zeitlichem Vorlauf gebucht. Da ich aufgrund dieser Verletzung nicht gut gehen konnte, bat ich meinen Partner mich hinzufahren. Dank seiner Hilfe war es mir möglich, den Kongress zu besuchen. Die Impulsvorträge waren inspirierend und es machte mir ein gutes Gefühl, dort zu sein – auch wenn mein Fuß schmerzte.
In der Mittagspause schlenderte ich durch die Begegnungsräume und blieb an einem der Büchertische stehen. Ein Buch sprang mir ins Auge: Warum Buddhismus wirkt von Robert Wright. Ich las die ersten Seiten und es zog mich sofort in seinen Bann. Ja, es war genau richtig, jetzt, in diesem Moment hier zu sein.
Als ich nach der Veranstaltung die Fotos der Kongressfotografin durchsah, entdeckte ich darin ein Bild von mir: An einem Büchertisch – tief versunken in einem Buch. Instinktiv, ohne es überhaupt wissen zu können, hatte sie – von mir völlig unbemerkt – einen dieser richtigen Momente meines Lebens festgehalten. Manchmal gibt es sie, diese stummen Zeugen, die einen daran erinnern, dass auch wenn manches gerade gar nicht gut läuft, dennoch einiges ganz richtig ist.
In diesen Tagen muss ich immer wieder an diesen besonderen Moment denken. Es war eine gute Entscheidung aller gesundheitlichen Schwierigkeiten zum Trotz diesen Kongress zu besuchen. Jetzt um diese Zeit sollte der Kongress wieder stattfinden. Doch aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens der andauernden Pandemie wurde die Veranstaltung abgesagt. Eine unbeschwerte Begegnung ist in diesen Zeiten im öffentlichen Raum unmöglich. Alles im Leben hat seine Zeit.
Berlin, 18. Oktober 2020