Wenn ich Menschen begegne, die ihre Leidenschaft leben, öffnet sich mein Herz.
Es ist eine Begegnung, die sich kaum mit Worten beschreiben lässt. Es ist der Körper, der in einem solchen Moment weiß, dass es ein besonderer Moment ist: Wenn mir Leidenschaft begegnet, erfüllt mich ein ehrfürchtiges Gefühl. Ich bin still und lausche. Manchmal huscht dann ein leises Lächeln über mein Gesicht, was mein Gegenüber verunsichern kann. Doch was wie ein spöttisches Belächeln gedeutet werden könnte, ist in Wahrheit mein Ausdruck purer Begeisterung für die Lebendigkeit meines Gegenübers.
In solchen Momenten spüre ich den Menschen vor mir mit jeder Faser seines Daseins. Fast plump klingen im Vergleich meine Worte, um diese Empfindung auszudrücken. Vielleicht so weit entfernt wie sich eine Kinderzeichnung eines Katers von dem Kater unserer Nachbarin unterscheidet. Oder wie es Maeterlinck ausdrückt: Wie ein Schatz, der unter der Wasseroberfläche funkelt – holt man ihn jedoch nach oben, um ihn mit jemandem zu teilen oder Worte dafür zu finden, sind es nur einfache Glasscherben. Worte können Erfahrungen nicht ersetzen.
Wenn mir Leidenschaft begegnet, spüre ich es sofort. Es sind diese Menschen, die sich mit jeder Zelle ihres Körpers für etwas begeistern und dieser Leidenschaft mit viel Kraft und Geduld nachgehen. Dabei ist es unerheblich, für welches Thema sich jemand begeistert. Mich interessiert die Qualität der Auseinandersetzung mit einem Thema.
Da ist der Amerikaner John Shepherd, der sein Leben dem Versuch widmet mit Aliens Kontakt aufzunehmen. Dafür baut er immer größer werdende Apparaturen, die seine Kontaktversuche immer weiter in den Weltraum senden können. Diese Maschinen nehmen zunächst sein Jugendzimmer ein, breiten sich später auf das Wohnzimmer der Großeltern aus, bei denen er seit seiner Kindheit lebt. Als es auch dort zu eng wird, errichtet er auf deren Grundstück ein separates Gebäude, um Platz für all die Bildschirme und Aggregate zu haben. So sendet und moderiert er allabendlich ein Programm mit cultural music: indonesische Gamelans, frühen Krautrock, Jazz und Afropop. Als seine finanziellen Mittel versiegen, muss er sein Projekt einstellen. Wenig später gelingt es ihm, auf eine andere Art eine Verbindung herzustellen: Er begegnet seinem zukünftigen Partner. „Contact was made“, sagt er glücklich. Der Kurzfilm ist auf Netflix verfügbar.
Da ist der Brite Charles Dowding, der seine Leidenschaft als Gärtner auslebt. Bei einer Recherche rund um das Thema Permakultur und Beete, die ohne umgraben angelegt und bepflanzt werden können, bin ich einmal auf ihn gestoßen. Er versteht es wie kein zweiter seine Begeisterung für Pflanzen zu teilen. Stundenlang schaue ich ihm dabei zu, wie er verschiedene Pflanzen in Anzuchttrays vorzieht, seine Gurken im Gewächshaus hochbindet und die ersten Erbsenschößlinge des Jahres direkt am Beet probiert. Er liebt es – so wie ich – den Garten als praktisches Versuchslabor zu nutzen und macht fortwährend Experimente. Dazu gehört zum Beispiel der Vergleich eines no-dig-beds mit einem dig-bed. Spoiler: Beete, die nur mit Kompost angelegt werden und nicht umgegraben werden, sind seinen Experimenten nach ertragreicher als Beete, die umgegraben werden. Auf seiner Webseite oder bei YouTube kannst du dir verschiedene Beete mit ganz unterschiedlichen Bepflanzungen zu unterschiedlichen Jahreszeiten anschauen. Noch nie habe ich jemanden so leidenschaftlich über die beste Zusammensetzung von Kompost sprechen hören. Immer wieder begleite ich ihn bei seinen Gartenrundgängen. Dabei lerne ich jedes Mal etwas Neues über versetztes Auspflanzen der Setzlinge, meterhohe Erbsensorten und Wintergemüse.
Er teilt sein Wissen mit einer sprichwörtlichen Bodenständigkeit, mit einer absoluten no bullshit attitude. Er geht einfach in den Garten, pflanzt hunderte seiner vorgezogenen Salat-Setzlinge aus, deren Ernte er an umliegende britische Restaurants verkauft. Er berichtet von seinen Learnings aus den Experimenten, zeigt wie man auch auf kleinstem Raum gesundes Gemüse ernten kann und dass die Anzucht im Winter am besten auf einem dampfenden Kompost gelingt.
Wenn wir Glück haben, begegnen uns Menschen, die ihre Leidenschaft leben, nicht nur digital, sondern auch in unserem Alltag. Es sind Menschen, die ihre Leidenschaft für ein bestimmtes Thema entdeckt haben und ihr ganzes Leben diesem Thema widmen. Unabhängig von ihren Abschlüssen werden sie so zu wahren Expert*innen.
Dann sind da auch noch diese Menschen, die ganz tief in verschiedene Themen eintauchen. Ihre Neugier auf das Leben beschränkt sich nicht auf ein Gebiet. Sie geben sich nicht damit zufrieden eine große Tiefe und Breite in einem Lebensbereich zu entdecken. Es ist das Leben selbst, das sie in ihren Bann zieht. Wie eine gute Serie bewegen sie sich ausgehend von einem Punkt immer weiter und erschließen sich so ganz unterschiedliche, aber dennoch zusammenhängende Themen. Was von außen manchmal wie eine große Anstrengung aussieht, ist für sie selbst ein Spaziergang.
Mit ihrer Leidenschaft dringen sie viel weiter in die Materie vor, als eine Expertin, die sich nur in einem bestimmten Bereich auskennt. Sie sind multiple Expert*innen. Im Laufe ihres Lebens haben sie die Mechanismen der Auseinandersetzung mit der Welt für sich erschlossen. Das macht sie zu wahren Expert*innen der Recherche, die sie durch ihre Übung perfektioniert haben. Im Laufe ihrer Recherche spannt sich vor ihren Augen ein Netzwerk auf, das so viele Verbindungen aufmacht, dass sie sich stundenlang in diesen Wurmlöchern verlieren können. Was sich hier zeigt, ist die pure Funktionslust. Kein Querverweis geht ihnen verloren. Dieses Handlungswissen übertragen sie spielerisch auf andere Themen und ein neuer Zyklus beginnt.
Und dann, wenn wir diesen Menschen in den banalsten Momenten des Alltags begegnen und bereit sind, uns auf eine Reise einzulassen, dann teilen sie ihre Geschenke sehr großzügig mit uns. Vielleicht bei einem Spaziergang durch die Nachbarschaft, in einem Nebensatz bei einem Meeting oder bei dem kurzen Gespräch via Messenger. Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, werden wir reich beschenkt.
Berlin, 1.1.2021