Ganz in der Nähe von dem Ort, wo ich wohne, befindet sich ein Gebäude mit einer bedrückenden Geschichte. Es ist ein Ort, an dem Mitarbeiter_innen der Staatssicherheit in der ehemaligen DDR Menschen zumindest befragt haben. Manche Menschen haben sich auch länger an diesem Ort aufgehalten. Manche Menschen sind dort auch verschwunden. Mitten in Prenzlauer Berg, im Herzen Berlins, gab es dieses Gebäude, bei dem man nicht sicher sein konnte, ob man es nach seinem Termin unversehrt verlassen konnte.
Was genau hinter den Mauern dieses Gebäudes passiert ist, wissen nur wenige Menschen. Was hinter den verschlossenen Türen passiert ist, wissen noch weniger Menschen. Manche sind bereits verstorben und andere können sich – vielleicht zum Schutz ihres Lebens – nicht mehr daran erinnern.
Das Haus befindet sich an einer der Hauptstraßen Berlins – damals wie heute. Was die direkten Nachbarn mitbekommen haben, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Was sie lieber verschwiegen haben, um zu überleben, verliert sich in der Geschichte. Das Schweigen macht eine Rekonstruktion der Fakten schwierig.
Die Fassade dieses Gebäudes ist heutzutage von vielen Fragen gerahmt, die nun jeder lesen und sie sich stellen kann. Eine dieser Fragen lautet: Wieviel Schweigen erträgt ein Ohr? Die Fragen, die sich in meinem Kopf anschließen, drehen sich darum, was genau sich dort wohl abspielte und wie es sich so entwickeln konnte.
Mir schnürt es jedes Mal die Kehle zu, wenn ich auf dem Weg nach Hause nicht die Tram nehme und dann an diesem Gebäude auf dem Weg nach Hause vorbeigehe. Es ist ein dunkler Moment und eine schwere Erinnerung an diese Zeiten. Ich kann nur erahnen, wie es sich anfühlt hat, wenn man dort angeschwiegen wurde. Du gibst deine menschliche Würde an der Zellentür ab, dein Kopf wird geschoren und niemand sieht dich mehr an. Dein Name weicht einer Nummer und niemand spricht mehr mit dir. Das ist ein Schweigen aus einer inneren Haltung der Unmenschlichkeit und Verachtung heraus.
Etwas weniger gravierend vielleicht, aber ähnlich zerstörend, kann ein kaltes Anschweigen in der Partnerschaft oder in der Familie sein. Statt Dinge miteinander zu klären, schweigt man. Man hat sich nichts mehr zu sagen und verstummt. Schweigen ist dann ein Zeichen der Sprachlosigkeit, manchmal der Ausdruck emotionaler Gewalt.
Wenn Menschen aus dem Kontakt gehen, statt über die Dinge zu sprechen, die sie bewegen, haben sie jegliche Hoffnung auf eine Lösung aufgegeben. Sie ziehen sich zurück.
Manche Dinge sind auch schlicht nicht besprechbar – jedenfalls erscheint es so. Es scheint sicherer, über diese Dinge nicht zu sprechen, als ihnen Worte zu geben. Leider erfüllt sich dieser Wunsch nach Sicherheit oft nicht. Mit der Zeit entwickelt das Unbesprechbare und Unaussprechliche eine immer größere Schwere. Das Schweigen breitet sich aus.
Manchmal haben wir solch einen Umgang auch in unserer Herkunftsfamilie als Form der Bestrafung erfahren, wenn wir etwas falsch gemacht haben. Manchmal wurde uns der Mund verboten. Manchmal wurden die Dinge einfach nur totgeschwiegen. Manchmal reden auch wir lieber nicht über die Dinge, die uns stören, als dass wir sie ansprechen.
Diese negative Assoziation, die wir mit dem Nicht-Sprechen verbunden haben, hat sich tief in unserer Erfahrungsschatz eingebrannt. Der Körper erinnert sich.
Wenn uns nun heutzutage jemand etwas von einem Kurs im Schweigen erzählt, verbinden wir diese alte Erfahrung mit dem aktuellen Moment. Statt einer neuen Erfahrung im aktuellen Moment zu begegnen – begegnen wir nur unserer alten Gewohnheit. Wir reagieren auf eine neue Situation, wie wir bisher darüber gedacht haben oder damit umgegangen sind, statt sie als das zu erleben, was sie ist: Eine neue Erfahrung.
Im vergangenen Sommer war ich das erste mal bei einem Vipassana-Retreat im Schweigen. Eine Woche lang saß ich mit 20 Menschen von sechs Uhr morgens bis 21 Uhr am Abend in einem Raum und habe meditiert. Wir saßen einander zugewandt in Stille in einem Raum im Benediktushof in Holzkirchen. Unser Meditationslehrer sorgte mit seiner warmen Güte für jeden von uns im Raum. Außerhalb des Raumes wurden wir von all den Menschen versorgt, die sich um das Wohlergehen der Gäste am Benediktushof kümmern. Die Küche hat uns jeden Tag mit vier köstlichen Mahlzeiten versorgt.
Wir haben die gesamte Zeit in Stille verbracht. Wir haben nicht miteinander gesprochen und waren dennoch miteinander verbunden. Im Buddhismus wird dieses Schweigen auch das edle Schweigen genannt. Es ist ein Schweigen, das aus einer inneren Haltung der Verbundenheit und des Mitgefühls entsteht. Im Schweigen erleben wir das Gefühl einer wortlosen Verbindung und Gemeinschaft.
Wenn wir in der Stille sind, begegnen wir uns selbst und lauschen unserem inneren Dialog, den wir im Alltag all zu oft mit einem äußeren Dialog überdecken. Dieses Lauschen geschieht aus einer inneren Haltung der Freundlichkeit uns selbst gegenüber, die wir mit den Achtsamkeitsübungen entwickeln, pflegen und kultivieren. Auf diese Weise begegnen wir uns selbst und den Erfahrungen, die wir machen.
In meinem Podcast „Was mich glücklich macht.“ gibt es eine Episode über meine Erfahrungen, die ich während eines Vipassana-Retreats im Schweigen gemacht habe.
Wenn ich einem Gegenüber davon erzähle, was ich in der Stille erfahren habe, begegne ich manchmal Menschen, die diese Erfahrungen nicht nachvollziehen können. Das ist für mich verständlich, denn jeder Mensch hat mit dem Schweigen und der Stille seine eigenen Erfahrungen gemacht.
In diesen Momenten wird mir dann wieder besonders deutlich, wie wertvoll es sein kann, wenn wir den Mut haben, alte Muster in Frage zu stellen und sie mit einer neuen Erfahrung zu aktualisieren.
Götz, 19. Januar 2019