Heute Abend habe ich einen Spaziergang durch die Gegend gemacht. Ich bin ein paar Tage bei einer Fortbildung und freue mich darüber, dass direkt vor der Tür des Seminarhauses die Natur beginnt. Ich brauche keine Fahrt mit der Bahn oder einen längerer Fußweg, um mich in einer Umgebung zu befinden, die man oft mit den Worten „in der Natur sein“ beschreibt. Wenn ich aus dem Fenster schaue, habe ich das Gefühl „in der Natur“ zu sein. Jedenfalls stelle ich mir so eine Landschaft und dieses Gefühl darunter vor, wenn mir jemand sagt, dass er gern einmal wieder in der Natur wäre.
Ein langer Seminartag geht zu Ende und das Seminarhaus ist von weitläufigen Wiesen umgeben, die nur durch ein paar Wege und einige Baumreihen durchbrochen werden. Ein friedlicher Anblick. In der Ferne höre ich einige Reiher, die für diese Gegend so typisch sind. Sie fliegen immer zu zweit. Ich mag den Anblick, wie zwei Reiher immer gemeinsam zu sehen sind. Sie sind zu zweit, wenn sie über die Felder staksen. Sie sind zu zweit, wenn sie über die Felder fliegen. Oft höre ich ihren eher krächzenden Gesang schon aus weiter Ferne und sehe sie erst etwas später durch die Lüfte gleiten. Manchmal gibt es hier auch Flugenten, die auch als Paar unterwegs sind. Ein ganzes Flugenten-Leben lang.
Wenn ich viele Stunden in einem Seminarraum verbracht habe, zieht es mich magisch nach draußen. Ich kenne das schon von mir. Mein Körper vermisst die Bewegung dann oft schmerzlich. Ich gönne mir dann gern einen ausgedehnten Spaziergang. Meist gehe ich dabei schneller, als ich sonst im Alltag gehe. Die erhöhte Geschwindigkeit lässt meinen Puls nach oben schnellen und durchflutet meinen Körper mit Energie.
Wenn ich viele Stunden am Stück in einem Raum sitze, werde ich manchmal sehr müde. Manchmal spüre ich es körperlich. An anderen Tagen bemerke ich nur, dass meine Gedanken zäher werden. Es wird dann beschwerlicher zu denken. Spätestens dann brauche ich eine Pause an der frischen Luft. Wenn es irgendwie möglich ist, versuche ich mir diese Pause zu organisieren.
Manchmal sind die Seminarpausen an so einem Tag auch einfach zu kurz, um einen ausreichenden Ausgleich zu ermöglichen. Dann gehe ich am Abend und mache einen ausgedehnten Spaziergang.
Heute ist so ein Abend. Der Tag war lang – die Pausen kurz. Die Sehnsucht nach Bewegung an der frischen Luft und der Natur stieg auf. Einmal bemerkt, wurde der Impuls nach draußen zu gehen wurde immer intensiver. Ich folgte diesem Impuls.
Ich öffne die schwere Glastür und lasse sie hinter mir mit dem automatischen Schließmechnismus sanft ins Schloss fallen. Direkt vor dem Haus beginnt die Natur. Mein Weg führt durch weite Wiesen, die an wildbewachsene Weiher grenzen. Die Abendsonne legt sich wie ein warmer Schleier über das saftige Grün der Wiesen. Ich atme auf. In der Ferne höre ich den lieblichen Klang eines Pirols. Sein lockender Gesang hat mich heute schon im Seminarraum begleitet. Zum Glück kann man sich immer wieder neu entscheiden, ob man die Fenster öffnet und die Natur zu sich einlädt oder sie verschlossen hält.
Am Wegesrand sehe ich jede Menge Brennnesseln. Ich weiß, dass sich Brennnesseln nur auf fruchtbaren Boden ansiedeln. Seitdem ich einen Garten habe, freue ich mich über jede Brennnessel und sehe sie als Indikator für einen nährstoffreichen Boden. So erfreut mich sogar die klitzekleine Brennnessel in meinem Fenstergarten. Wenn ich mir die Zahl der Brennnesseln an diesem Platz anschaue, muss der Boden hier ganz ausgezeichnet sein.
Die Brennnesseln haben sich ganz unterschiedliche Plätze gesucht. Manche von ihnen stehen im Schatten, andere haben sich einen sonnigen Platz gesucht. Eine Sorte hat einen Kopf, der etwas dunkler gefärbt ist. Eine andere Sorte trägt große, weiße Blüten. Die meisten Brennnesseln, die ich sehe, blühen nicht. Während des Gehens sehe ich sie in ganz unterschiedlichen Größen.
Ich bemerke, wie mein Kopf beginnt, die Größe der Brennnessel einzuschätzen. „Das ist aber eine große Brennnessel!“ höre ich mich denken. Zum Glück bin ich allein. Wenn ich in Gesellschaft gegangen wäre, hätte ich meine Begleitung auf die Größe der Brennnessel hingewiesen. „Das ist aber eine große Brennnessel!“ hätte ich gesagt und mit dem Finger auf die Brennnessel gezeigt. Vielleicht hätte sich daraus ein Gespräch ergeben. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass uns dieses Gespräch aus der konkreten Erfahrung des Momentes gebracht hätte.
Aber ich bin allein und gehe in Stille. So bleibe ich bei mir und meinen eigenen Gedanken. In meinem Kopf lenke ich mich nur selbst ab. Nur ich bringe meine Aufmerksamkeit zu der Brennnessel, die ich sehe – oder verheddere mich in meine eigenen Gedanken über die Brennnessel. Etwas zu erfahren ist etwas völlig anderes, als über eine Erfahrung zu sprechen.
„Das ist aber eine große Brennnessel!“ hallt es in mir nach. „Doch woher willst du das wissen?“ frage ich mich weiter. „Was weiß ich denn schon über Brennnesseln?“ – Stille – „Nicht viel.“ höre ich mich antworten. Ich bin Zeuge eines inneren Dialogs, wie ich ihn so häufig führe.
Meine Denkmaschine erfreut sich an solchen Momenten. Sie ist sofort präsent und einsatzbereit. Sie ist es gewohnt zu denken und sich nicht mit dem erstbesten Einfall zufrieden zu geben. Also denkt sie weiter. Dieser Zustand fühlt sich angenehm an. Die Denkmaschine denkt. Oft erfreue ich mich an diesem Zustand.
Nur manchmal fühlt es sich zäh und gar nicht mehr angenehm an. Dieses Gefühl stellt sich vor allem dann ein, wenn meine Gedanken um eine negative Vorstellung kreisen oder etwas nicht so schnell loslassen wollen, wie mein Verstand es gern hätte. Mir hilft es dann, aus dem Kreisen auszusteigen, indem ich zu der konkreten Erfahrung zurückkehre.
Vor mir steht noch immer eine ganzer Busch an Brennnesseln. Ich habe mich dabei beobachtet, wie ich mich in meine Gedanken verstrickt habe und dabei die Schönheit des Momentes verpasst habe. Ich lächle mir innerlich zu und freue mich über diesen Moment der Achtsamkeit. Dabei zu sein und mitzubekommen, was geschieht, ist ein Aspekt der Achtsamkeit.
Diese Brennnesseln am Wegesrand haben mir gerade eine Lektion in Achtsamkeit erteilt.
Und noch etwas habe ich von den Brennnesseln gelernt. Sie haben mir gezeigt, welche Bedeutung unsere Erfahrungen haben. Denn woher soll ich denn wissen, ob eine Brennnessel groß, mittelgroß oder klein ist? Ich kann mein Erleben im Moment nur mit meiner Erfahrung aus der Vergangenheit vergleichen. Aus diesem gedanklichen Abgleich ziehe ich meine Schlüsse. Einige der Brennnesseln, die ich heute Abend gesehen habe, waren – im Vergleich mit meinen bisherigen Erfahrungen – groß. Andere waren sehr klein. Dabei bleibt meine Erfahrung immer mein Referenzbereich, auf den ich mich beziehe. Mehr als meine Erfahrung habe ich nicht.
Und was wäre, wenn mir plötzlich eine Brennnessel begegnen würde, die anderthalb Meter groß gewachsen ist? Was bedeutet das? Ist das dann wirklich eine ganz besonders große Brennnessel? Oder habe ich in meinem Leben schlichtweg bisher nur mittelgroße oder sehr kleine Brennnesseln gesehen und diese Erfahrungen für „normal“ gehalten, obwohl die anderthalb Meter große Pflanze eigentlich das „Normale“?
Was für uns normal ist, entscheiden wir oft aufgrund unserer Erfahrungen. Unsere vergangenen Erfahrungen sind die Basis, auf der wir etwas als „normal“ oder „anders“ bzw. „besonders“ bewerten. Unsere Erfahrungen sind jedoch immer nur ein klitzekleiner Ausschnitt der Welt.
Was wäre aber, wenn unsere bisherigen Erfahrungen gar nicht das „normale“ sind, sondern eine ganz unterdurchschnittliche Erfahrung?
Götzer Berge, 24.05.2019