Vor unserem Fenster steht ein Weihnachtsbaum. So einen prächtigen Baum habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Er hat eine stattliche Größe von fünf Metern, ist gerade und gleichmäßig gewachsen und steht stolz auf einem kleinen Platz.
Zwei Tage bevor er aufgestellt wurde, kam ein Lieferwagen und hat ihn auf den Platz gelegt. In seiner Verpackung aus Plastik sah er ziemlich traurig aus. Eine Tanne sollte nicht in ein Netz aus Plastik gesperrt werden.
Zwei Tage später war es dann endlich soweit: Sie wurde aus dem Netz befreit und konnte ihre Krone in den Himmel strecken und sich in all ihrer Pracht ausbreiten. Es war ein klirrend-kalter, sonniger Wintertag an dem sie aufgestellt wurde.
Menschen aus der Umgebung kamen herbei und fotografierten sich mit dem Baum. Nachbarn, die sonst schnell über den Platz eilen, gingen nun merklich langsamer.
Aus einer Schule in der Gegend kamen Kinder und schmückten den Baum mit einer Lichterkette, die in der Dämmerung leuchtete. Außerdem hatte jedes Kind eine Friedenstaube aus weißem Karton ausgeschnitten und mit einem persönlichen Wunsch beschriftet. Jemand wünschte sich Gesundheit, jemand anderes eine gute Freundin an der Seite, ein anderer Glück. Ich freute mich über diese Wünsche und die individuelle Gestaltung des Baumes. Ein gutes Ritual und ein Gewinn für alle Menschen der Nachbarschaft.
Der Dezember begann und die Tage wurden regnerischer und dunkel. Es wurde zu einem guten Ritual für mich, jeden Morgen aus dem Fenster den Baum zu betrachten.
An einem stürmischen Abend schaute ich wie gewohnt aus dem Fenster und beobachtete, wie sich der Baum im Wind bewegte. Der Wind war an diesem Abend sehr heftig. Aber irgendwann wunderte ich mich über die Bewegungen, die so gar nicht rhythmisch waren und nicht dem Takt des Windes folgten. Außerdem drehte sich der Baum auf merkwürdige Art und Weise. Ich schaute genauer hin und entdeckte, wie sich jemand am Fuße des Baumes zu schaffen machte. Mit voller Körperkraft versuchte jemand diesen Baum in die Knie zu zwingen. Sie krabbelte immer wieder durch die Äste und machte sich an der Verankerung zu schaffen, mit der der Baumes im Boden befestigt war. Doch die Tanne blieb stehen. Irgendwann verlor die Angreiferin die Kraft oder die Zuversicht, es doch noch schaffen zu können. Weihnachten war ihr offenbar ein Gräuel.
Am nächsten Morgen schaute ich wieder aus dem Fenster. Das Bild hatte sich geändert: Der Baum war durch den Angriff ganz schief. Die Lichterkette war abgerissen. An die Friedenstauben mit den Wünschen der Kinder erinnerten nur noch die zurückgebliebenen Befestigungen aus Draht, die vereinzelt noch am Baum hingen. Mich machte das traurig.
Nicht jeder Mensch feiert Weihnachten und mag die Tradition des Weihnachtsbaumes. Das ist völlig in Ordnung. Mich machte traurig, dass jemand die Rituale und auch das Eigentum von anderen so missachtete. Bitte, versteh mich nicht falsch, niemand muss einen Weihnachtsbaum haben oder eine Leiter schmücken. Du kannst auch ohne Baum glücklich sein und deine Wohnung muss auch nicht weihnachtlich oder sonst wie dekoriert sein. Mir geht es nur um ein respektvolles Miteinander.
Mit dieser Bestürzung blieb ich nicht allein. Die Nachbarn liefen wie zuvor über den Platz, hielten inne und schauten sich dieses Trauerspiel an. Doch dann geschah etwas Wundervolles: Bereits wenige Tage später wurde der Baum wieder aufgerichtet und stand wieder stolz in der Mitte des Platzes. Noch ein paar Tage später kamen die Kinder erneut und schmückten den Baum mit weißen Friedenstauben aus Papier, auf die sie wieder ihre Wünsche geschrieben hatten. So konnten sie ihre Wünsche noch einmal überdenken. Die Lichterkette, die den Baum erstrahlen ließ, war noch viel schöner als zuvor.
Egal was einem im Leben passiert und wovon man durchgeschüttelt wird. Man weiß nie, wofür es gut ist und ob dieses Schütteln nicht Platz für ganz viel Liebe und Neues schafft, was sich im Hier und Jetzt stimmig anfühlt.
Berlin, 23.12.2019