Plötzlich ist sie da. Die Krise. Sie steht vor dir und du kommst nicht mehr an ihr vorbei. Sie baut sich in ihrer vollen Größe vor dir auf und hämmert dir die Macht, die sie über dich hat, zuerst mit Fäusten, später dann mit schwerem Werkzeug entgegen. Wenn wir einer Krise begegnen, verändert uns das. Wir sind nicht mehr dieselben, denn unser Leben ist nicht mehr dasselbe. Der Bezugsrahmen hat sich verändert.
Oft erscheinen Krisen plötzlich – jedenfalls scheint uns das so. Sie tauchen plötzlich – wie aus dem Nichts – und ohne Vorankündigung auf und schütteln unser Leben, das wir uns gerade so schön zurechtgerückt haben, durcheinander. Die Version des Lebens, der wir bisher gefolgt sind, gibt es nun nicht mehr. Manchmal kündigen sich Krisen vorher an. Wenn man es genau nimmt, machen sie das ziemlich oft, nur gelingt es uns oft noch nicht, die niedrigschwelligen Hinweise zu erkennen. Wir gehen über die zarten Erinnerungen hinweg und bemerken oft erst die deutlich sichtbaren und spürbaren Warnzeichen, die einem Warndreieck gleichen. Und oft genug übergehen wir auch das Warndreieck. Wir stolpern zwar kurz über das Hindernis, das sich uns gerade in den Weg gestellt hat, machen aber nach dem Stolpern so weiter, als hätte es das Warndreieck auf unserem Weg nie gegeben.
Doch Krisen sind unglaublich kreativ. Sie haben eine unendliche Zahl von Erscheinungsformen und können sich im Laufe der Zeit auch so kunstfertig verwandeln, dass wir glauben, plötzlich vor ganz anderen Themen zu stehen. Manchmal ist das auch so und die Themen haben sich verlagert. Oft jedoch wiederholen wir, der systemischen Logik folgend, die immer gleichen Themen. Es braucht die Wiederholung, um die Themen endlich auflösen zu können. Das gelingt jedoch nur, wenn wir eine neue Lösung dafür finden. Steht das gleiche Thema wieder bei uns vor der Tür, haben wir in der Vergangenheit wohl doch – mehr oder weniger geduldig – immer wieder die gleiche Lösung wiederholt, die dann doch nicht zur Auflösung des Themas geführt hat.
Krisen können ganz unterschiedliche Erscheinungsformen haben. Manchmal kommen sie in Form von Stresserleben daher. Manchmal ist das auch nur der Beginn. Aber auch Konflikte in Beruf und Partnerschaft, Trennungen mit und ohne Scheidung oder beruflich veranlasste Umzüge können als Krise erlebt werden. Die Geburt eines Kindes, der Auszug der Kinder, ein Pflegefall in der Familie, der Tod eines nahen Angehörigen. Oft sind es auch schwere oder anderweitig lebensverändernde Krankheiten, die uns in die Krise führen. Krisen lassen keinen Stein mehr auf dem anderen. Der Radius der Möglichkeiten verändert sich. Oftmals wird er geringer, wenn es zum Beispiel aufgrund von Krankheiten zu Bewegungseinschränkungen kommt. Manchmal wird er auch größer, wenn z.B. die Kinder ausgezogen sind und man den neuen Freiraum nun erstmal mit neuen Lebensinhalten füllen kann.
Doch was passiert, wenn wir uns mitten im Chaos der Krise befinden?
Auch wenn sich eine Krise selbst wie das absolute Chaos anfühlt, so lässt sich doch eine gewisse Struktur erkennen, wenn man den Mut hat hinzusehen. Der Weg im Umgang mit Krisen und durch sie hindurch, folgt einem Muster. Natürlich ist der Ablauf nicht streng chronologisch geordnet und vorhersehbar. Dennoch lässt sich eine gewisse Abfolge von Phasen identifizieren, die sich zwar in ihrer Länge unterscheiden können und manchmal auch mehrfach durchlaufen werden.
Wie der Weg durch die Krise beginnt
Am Anfang steht zuerst der Schock. Manchmal gab es schon eine Vorahnung oder einen Hinweis, den wir schon früher wahrgenommen haben, aber ihn noch verdrängen konnten. Nun ist die Situation völlig klar: Das Ergebnis der Untersuchung liegt schwarz auf weiß auf dem Tisch. Der Brief mit der Kündigung ist da oder abgeschickt. Die Partnerin ist ausgezogen. In dieser Phase fühlen wir uns überwältigt von den Ereignissen und erleben uns als wenig handlungsfähig. Die Situation ist neu für uns und unser Lebenskonzept fällt bei schweren Krisen in sich zusammen.
Da diese Situation der Handlungsunfähigkeit so schwer für uns auszuhalten ist, kommt in der zweiten Phase die Verneinung. Wir leugnen, dass es tatsächlich wir selbst sind, die davon betroffen sind. Wir glauben, dass die bevorstehende Operation schon den erhofften Erfolg bringen wird und alles nochmal glimpflich für uns ausgehen wird. Wir glauben, dass die Veränderungen, die es in der letzten Zeit im Unternehmen gab, uns nicht betreffen werden.
In der nächsten Phase verstehen wir dann, dass wir tatsächlich davon selbst betroffen sind. Wir können einsehen, dass es die Diagnose gibt. Wir sehen ein, dass die Umstrukturierungen auch unseren eigenen Arbeitsplatz verändern werden. Diese Phase ist häufig durch Unsicherheit geprägt, die mit Wut und Aggressionen einhergehen kann. Das kann sich in Form von Konflikten im Umgang mit anderen Menschen äußern oder in schädigenden Verhaltensweisen, die wir uns selbst gegenüber zeigen. Wir essen nicht mehr. Wir ziehen uns zurück. Wir bewegen unseren Körper nicht mehr. Wir vermeiden Dinge, die uns gut tun. – Das Spektrum an Möglichkeiten von selbstverletztenden Verhaltensweisen ist auch im nicht-pathologischen Bereich groß.
Nach dieser Phase folgt eine Phase der Trauer. Die Veränderung ist da. Der Partner ist ausgezogen. Die Wohnung ist verlassen und die neue Wohnung bietet noch keine Geborgenheit. Der Job ist weg. Das Großraumbüro ist da. In dieser Phase erkennen wir die Veränderung an und akzeptieren sie, wie sie ist. Diese Phase ist oft mit Trauer und Gefühlen von Traurigkeit verbunden, weil es das, was wir uns vormals erhofft hatten, nicht mehr in unserem Leben gibt. Wir müssen uns verabschieden von unseren alten Erwartungen, die immer mehr als Illusion erkannt werden können. Wir erkennen an, dass es den Marathon in unserem Leben nicht mehr geben wird. Wir erkennen an, dass diese Form von Partnerschaft nicht mehr möglich ist.
An diesem Punkt können wir uns entscheiden, ob wir weiterhin unseren Illusionen folgen möchten oder ob wir die Realität, so wie sie sich uns zeigt, akzeptieren und für uns annehmen können. Der erste Weg ist der längere Weg, denn wir werden noch viele Schleifen gehen und auf diesem Weg viel Leid erfahren, wenn uns immer wieder die gleichen Situationen begegnen und wir glauben, sie doch nicht ändern oder gar lösen zu können. Auf dem zweiten Weg erwartet uns der unvermeidliche Schmerz des Verlustes und er ermöglicht es uns gelassener durch das Leben zu gehen. Buddha sagt: „Leiden kann man verhindern, Schmerz nicht.“ Wir können die Krisen in unserem Leben nicht verhindern. Es gehört zur menschlichen Existenz, dass wir Krisen erleben. Aber wir können das Leiden verhindern, indem wir unseren Umgang mit den Krisen des Lebens verändern.
Achtsamkeit ist ein Weg, um gelassener zu werden im Umgang mit all dem, was sich uns im Leben zeigt. Statt unseren Blick vom Schmerz abzuwenden, uns abzulenken oder die Ereignisse zu verdrängen, machen wir das, was sich zunächst ungewohnt und unlogisch anfühlt: Wir schauen genau hin. Und mit jedem Moment des Hinschauens wächst unsere innere Stärke, die Veränderung ermöglicht.
Wenn wir durch die Phase der Trauer hindurch sind, haben wir anerkannt, dass es jetzt eine neue Version unseres Lebens gibt. Dies erleichtert es, neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Wir haben unsere alten Muster aufgegeben und sind bereit Neues zu lernen. In dieser Phase entwickeln wir manchmal ungeahnte Kräfte, denn es gibt viel Kraft, wenn wir mutig und neugierig sind und Dinge ausprobieren, die uns zuvor unmöglich erschienen. Das ist der Weg aus der Krise.
Es kann verlockend erscheinen, gleich mit dieser Phase zu beginnen, ohne durch die anderen Phasen gegangen zu sein, weil man so vermeintlich schneller am Ziel ist und sich viel Leid erspart. Leider gibt es für den Weg aus der Krise keine Abkürzung. Für eine nachhaltige Veränderung wollen alle Phasen angemessen gewürdigt werden.
Für die Entwicklung von Resilienz, Selbstvertrauen und innerer Stärke ist es sogar notwendig, dass wir durch all diese Phasen hindurch gehen. Nur wenn es uns gelingt, die Krise zu sehen, sie anzuerkennen und das zu lernen, was es zu lernen gibt, gehen wir gestärkt aus einer solchen Erfahrung hervor. Der Begriff Resilienz wird hier als seelische Wetterfestigkeit verstanden, als mentale Stärke, die es ermöglicht auch in Krisen stabil zu bleiben. Emmy Werner, die das Resilienzkonzept entwickelt hat, geht sogar davon aus, dass es notwendigerweise Krisen braucht, um Resilienz entwickeln zu können. Ich teile ihre Einschätzung und möchte noch folgenden Punkt ergänzen: Je früher wir Krisen in unserem Leben begegnen und je größer die Krisen sind, denen wir in unserem Leben begegnen, umso schneller und umfassender können wir wachsen. Also lasst uns den Krisen in unserem Leben mit Wohlwollen und einer gebührenden Wertschätzung begegnen.
Berlin, 17.10.2018