Die große Kreuzung, an der ich wohne, hat heute Abend Besuch von einer Amsel bekommen. Ich kenne den Gesang dieser Amsel schon. Ihr Gesang ist sehr melodisch und es gibt ein paar schrille und durchdringende Töne in ihrem Lied. Im letzten Jahr hat sie oft auf dem Dach unseres Hauses gesessen und den Innenhof von dort oben mit ihrem abendlichen Gesang beschallt. Heute Abend ist es anders. Sie sitzt auf einem der oberen Äste der großen Linde, die auf der Kreuzung steht. Von außen betrachtet, ist es ein nicht besonders romantischer Ort für ein Abendlied. Vielleicht suchte die Amsel auch nicht nach einem romantischen Ort, um sich an ihrem Gesang zu erfreuen.
Diese Kreuzung queren in jeder Stunde unzählige Autos. Morgens bewegen sich lange Schlangen von Autos langsam auf sie zu, um dann doch wieder vor der roten Ampel zu stehen. Am Nachmittag dreht sich die Richtung, aus der die Autoschlangen kommen und die Geschwindigkeit scheint noch langsamer zu sein. Mir ist aufgefallen, dass die Menschen, die die Fahrzeuge steuern am Nachmittag noch häufiger hupen. Und wenn sie hupen, dann scheint es ihnen wichtig zu sein, dies mehrfach zu tun. Vielleicht glauben sie, dass der andere Autofahrer sie dann besser hört oder sich seine Reaktionszeit verkürzt. Vielleicht sind sie am Nachmittag auch schlicht wacher als am Morgen – oder gereizter. Was auch immer es ist, mir bleibt nur die Spekulation.
Zu den Autos kommen noch einige Busse und Straßenbahnen, die die Kreuzung in mehrere Richtungen queren. Es ist eine eindrucksvolle Kreuzung. Hier ist richtig etwas los. Gewissermaßen kann ich verstehen, dass sich die Amsel ausgerechnet diesen Platz ausgesucht hat. Nur in der Nacht ist es still. Ich stehe dann gern am Fenster und schaue in die Nacht hinaus. Ich mag diesen Platz. Er zeigt mir, dass die Möglichkeit zur Veränderung in jedem Moment enthalten ist.
In einem Ryokan in Kyoto habe ich in einer Teezeremonie eine treffende Bezeichnung für dieses Gefühl gelernt: ichi-go ichi-e. Sinngemäß und viel zu kurz übersetzt bedeutet dieser Satz, dass jeder Moment einzigartig ist. Es gibt ihn nur ein einziges Mal. Und jetzt… jetzt ist er schon vergangen. Dieser Gedanke ist nicht nur ein zentrales Element der japanischen Teezeremonie, sondern auch ein elementarer Bestandteil des Lebens selbst. Vielleicht ist es das zentrale Element des Lebens. Satako, die Gastgeberin des Ryokan, lehrte mich diesen Satz auf japanisch zu sagen. Ich trage ihn seitdem in mir. Satako lehrte mich aber noch viel mehr als die schlichte Wiedergabe der Worte, die für mich so schwierig waren nachzusprechen. Sie ermöglichte mir, eine Erfahrung zu machen, die viel umfassender ist und mehr Nuancen umfasst, als sie mit Worten beschreibbar wäre. Jeder Moment ist einzigartig. Es gibt keinen Moment ein zweites Mal. Wir haben die Chance uns und unserem Leben in jedem Moment immer wieder neu zu begegnen.
Das Zwitschern der Amsel holt mich aus meinen Erinnerungen heraus und bringt mich zurück in den Moment. Es ist völlig ohne Zweifel: Diese Amsel sitzt in der Baumkrone der Linde und singt aus voller Kehle ihr Lied. Es ist noch nicht so spät, dass die Kreuzung still wäre. Es scheint fast so, als wäre sie an diesem Abend gekommen, um die Menschen an diesem lauen Frühsommerabend daran zu erinnern, dass es auch noch etwas gibt, das sich außerhalb der Stadt befindet. Möchte sie uns in die Natur locken? Oder möchte sie mit ihrem Gesang nur potentielle Partner*innen für die Balz anlocken?
Ich habe ein paar Spezialinteressen. Ich weiß etwas über gute und schlechte Nachbarschaften im Gemüsegarten, dass Kartoffelkäfer ihre orangenen Eier an die Unterseite der Blätter legen und kenne die Grundprinzipien der Permakultur. Ich weiß, wie man Möbel aus Holz und Körbe aus Peddigrohr erschaffen kann. Ich weiß, wie man Brot mit Sauerteig backt und Gemüse fermentiert. Aber ich weiß nicht besonders viel über Vögel. In diesem Moment stehe ich einfach nur da, betrachte den Vogel und lausche seinem bezaubernden Gesang.
In seinem Buch „Stille“ nähert sich Erling Kagge in 33 Punkten der Bedeutung der Stille an. Von ihm habe ich gelernt, dass Vögel ihren Gesang an ihre Umgebung anpassen. Genau genommen passen sie die Lautstärke ihres Gesangs an die Lautstärke ihrer Umgebung an. Wenn Vögel in der Stadt leben, wird ihr Gesang lauter. Aber auch außerhalb der Städte ist die Lautstärke größer geworden – die Vögel passen sich an. Es ist ein natürliches Prinzip. Diese erhöhte Lautstärke führt bei Vögeln zu Problemen bei der Anbahnung von Beziehungen. Ich kann das gut nachvollziehen, denn miteinander schweigen zu können ist für mich mindestens genauso wichtig, wie miteinander reden zu können.
Ich bemerke, dass ich schon wieder in einem Gedanken gelandet bin. Eine Erfahrung im Außen hat mich berührt und die Denkmaschine in mir angeworfen. Ein Gedanke folgt dem nächsten und bringt mich weg von der konkreten Erfahrung des Augenblicks. Über mir singt die Amsel noch immer. In diesem Moment bin ich glücklich.
Berlin, 17.05.2019