Die Alpen zu Fuß überqueren? Mit diesen neun Regeln schaffst du es.

Die Alpen zu Fuß überqueren? Mit diesen neun Regeln schaffst du es.

Seit ich im Jahr 2016 auf meiner ersten Hüttentour durch das Karwendelgebirge gelaufen bin, ließ mich die Vorstellung nicht los: Einmal im Leben die Alpen zu Fuß überqueren! Mit dieser Sehnsucht war ich in guter Gesellschaft, denn ich habe seitdem einige Menschen getroffen, die mit mir den Traum teilten, den Alpenhauptkamm zu überschreiten und hinab ins Tal zu wandern.
In diesem Sommer habe ich meinen Traum wahr gemacht und bin einmal quer durch die Alpen gegangen. Gestartet bin ich in Deutschland, um dann über Österreich am Achensee vorbei bis nach Italien zu gehen. Auf diesem Weg habe ich viele schöne Momente erlebt und Erinnerungen gesammelt, die mich noch lange begleiten werden. Der wortgewandte Musiker Enno Bunger würde es vielleicht so ausdrücken: „Was berührt, das bleibt.“ Beim Gehen kamen mir auch einige Erkenntnisse, deren Bedeutung weit über die Wanderung hinaus reicht. Ich habe daraus neun Regeln formuliert, die du beherzigen solltest, wenn du die Alpen erfolgreich zu Fuß überqueren möchtest.
Übrigens: Die Alpenüberquerung kannst du als Ziel ganz wörtlich nehmen – oder sie als Metapher verstehen für die Herausforderungen, die das Leben für jeden von uns bereithält.

# 1: Habe immer einen Plan, wohin du gehen möchtest
Wenn du einen Plan hast, wohin du gehen möchtest, hilft dir das auf dem Weg. So kannst du zielorientiert entscheiden, ob du es dir erlauben kannst „an jeder Milchkanne stehenzubleiben“ oder ob du lieber „Kilometer machen“ solltest. Hast du eine weite Strecke vor dir, solltest du nach der Tageszeit und den Bedingungen (Punkt 7) entscheiden, welches Verhalten im Moment sinnvoll ist. Wenn du weißt, wohin du gehen möchtest, hilft dir das bei der Orientierung auf dem Weg. So kannst du entscheiden, welcher Weg dich zu deinem Ziel führt. Du kannst dich bewusst für einen Umweg entscheiden, wenn deine Ressourcen (z.B. Kraft, Zeit, Wetter, Bedingungen) es erlauben. Nimmst du den einstündigen Aufstieg zum Gipfel noch mit oder möchtest du lieber frühzeitig in der nächsten Hütte sein?

# 2: Vergiss den Plan, den du gemacht hast und bleib flexibel
Auf den ersten Blick, hört sich dieser Punkt wie ein Widerspruch zum ersten Punkt an. Ja, einen Plan zu haben, ist wunderbar. Aber an einem Plan starr festzuhalten, wenn sich dieser als nicht umsetzbar herausstellt, ist dumm. Wenn du die Bedingungen auf dem Weg oder das Wetter nicht berücksichtigst, kann das sogar ziemlich gefährlich werden (siehe Punkt 7). Also, erlaube dir deinen Plan loszulassen und dem Weg zu vertrauen. Sei klar in deinem Ziel, aber bleibe flexibel bei der Wahl deines Weges. Dir steckt der letzte Abstieg noch in den Knochen? Dann nimm einen Weg, der vielleicht etwas weniger steil ist für den nächsten Abstieg – wenn du wählen kannst. Du merkst, dass deine Kraft nicht mehr ausreicht, um noch weitere zehn Kilometer auf der asphaltierten Straße ins Tal zu gehen und auf dem Weg liegt eine Bushaltestelle mit einer stündlichen Taktung? Dann nimm den Bus. Du wirst noch genug Kilometer gehen können. Deine Beine sind schwer und du spürst erste Anzeichen einer Unterzuckerung, aber das Ziel deiner Etappe ist nur noch knappe 30 Minuten entfernt? Gönn dir eine Pause auf einer Bank am Wegesrand. Falls keine Bank in Sicht ist, nimm deinen Rucksack ab und genieße deine mobile und bequeme Sitzgelegenheit. Sei freundlich und sanft zu dir.
Nutze die Chancen und Aussichten, die sich dir auf diesem Stück des Weges bieten. Sei dir bewusst, dass jeder Moment einmalig ist und nicht wiederkommen wird. Du möchtest das Riesenschnitzel in dieser Hütte essen? Mach es. Die Route über die andere Hütte gefällt dir mehr als der eigentlich geplante Weg? Geh den Weg, der jetzt stimmig für dich ist. Wenn du ein Foto machen möchtest, mache es gleich. Das Licht wird nie wieder besser sein als in diesem Moment. Vielleicht ziehen im nächsten Moment Wolken auf oder ein Platzregen trübt die Sicht. Sei im Moment und koste das, was das Leben dir schenkt, in vollen Zügen aus. 

# 3: Entweder du gehst oder du genießt die Aussicht
Wenn du gehst, dann gehe. Wenn du die Aussicht betrachten möchtest, bleibe stehen. Deine Chance zu stolpern, dich zu verletzen oder das Gleichgewicht zu verlieren, steigen um ein Vielfaches, wenn du versuchst mehrere Dinge gleichzeitig zu machen. Also mache immer nur eine Sache zur Zeit. Bleibe im Moment und genieße den Weg. 
Wenn du merkst, dass deine Gedanken immer stärker um deine Aufmerksamkeit buhlen und dich aus dem Moment bringen, dann bleibe kurz stehen. Einen Moment innehalten, die Konzentration aufbauen und wieder von vorn beginnen. Gehen, weiter gehen.
Versuche nicht die bekannten Muster der Effizienz ins Wandern zu bringen. Du musst nicht schnell am Ziel ankommen. Es ist kein Kampf gegen deinen GPS- oder Fitness-Tracker, um eine noch bessere Zeit posten zu können. Du kannst dir erlauben in deinem Rhythmus zu gehen. Du kannst dir auch erlauben langsam zu sein. Genieße den Moment und den Augenblick. Und wenn es gerade beschwerlich ist und der Aufstieg sehr steil ist, dann mache eine Pause. Es ist ein Akt der Freundlichkeit, wenn wir uns hinsetzen und eine Pause machen, wenn unser Weg gerade anstrengend ist. Gönn dir diese Pause. Sie ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen der Selbstverantwortung und Selbstfürsorge. Nimm dir ab und zu die Zeit, um zurückzuschauen und den zurückgelegten Weg zu würdigen. Bleibe stehen und schaue zurück, welchen Weg du bisher gegangen bist. Das ist gerade auch bei besonders anspruchsvollen Etappen zu empfehlen. 

# 4: Triff keine Entscheidung, die über den Moment hinaus geht
Etwas kontrollieren zu können, fühlt sich gut an. Wir Menschen mögen das. Aber das Leben ist nicht planbar. Nichts ist planbar. Alles was du sicher wissen kannst, ist das, was im Moment geschieht. Insofern ist es sehr weise, wenn du dich in deinen Entscheidungen auf das beziehst, was im Moment da ist. Niemand weiß, was an der nächsten Ecke auf dich wartet. Vielleicht ist die Aussicht hinter dem nächsten Felsvorsprung noch schöner? Vielleicht verletzt du dir das Sprunggelenk beim Versuch Halt auf einem wackligen Stein zu finden? Vielleicht liegt vor dir plötzlich ein gefährliches Schneefeld? Oder eine unbezwingbare Felsstufe zwingt dich zur Umkehr? Du weißt es einfach nicht. Du weißt nicht, wo du in zwei Tagen sein wirst. Und du weißt auch nicht, wo du in einer Stunde sein wirst. Alles was du weißt, ist das, was sich im Moment zeigt. 
Vorhersagen über die Zukunft zu machen ist müßig. Die Zukunft ist unsicher, denn sie ist noch nicht da. Niemand weiß, wie lange du für den Weg brauchst. Es ist völlig unklar, ob die Hütte eine Dusche oder warmes Wasser hat. Also lohnt es sich auch nicht, sich darüber jetzt Gedanken zu machen, denn jetzt bist du auf dem Weg.

# 5: Nimm nur die Dinge mit, die du wirklich brauchst
Auf einem langen Weg kann viel passieren. Es lohnt sich, wenn du vorbereitet bist. Aber prüfe genau, welche Dinge du auf deinem Weg bei dir haben möchtest. Welche Dinge benötigst du wirklich? Und welche Dinge dienen nur dazu, dich selbst zu beruhigen, weil der Weg voller Ungewissheiten ist? Viele Dinge lassen sich unterwegs für wenige Euro besorgen – zum Beispiel Ersatzbatterien. Wenn sie dir fehlen, kannst du sie immer noch kaufen. Du musst sie nicht auf dem ganzen Weg bei dir tragen.
Eine Wasserflasche zu haben ist wunderbar. Du kannst sie unterwegs auffüllen. Snacks für den Notfall dabei zu haben, ist wichtig. Prüfe genau, wieviele Dinge für den Notfall du wirklich brauchst. Eine Rettungsdecke, Taschenlampe und Pfeife sind unverzichtbar. Aber wieviele T-Shirts und Socken brauchst du wirklich? Wenn du auf dem Weg merkst, dass du manche Dinge nicht mehr benötigst, dann entsorge sie. Zusätzliche Wasserflaschen sind sehr hilfreich, wenn es keine Stationen zur Rast auf dem Weg gibt. In bewirtschafteten Gegenden brauchst du sie jedoch nicht. Du kannst sie zurücklassen oder spenden. Vielleicht freut sich auch jemand, den du auf dem Weg triffst über die Dinge, die du jetzt nicht mehr benötigst. 
Nimm auf deine Wanderung ausschließlich Kleidung mit, dir dir auf dem Weg dienlich ist. Auf dem Weg gibt es keinen Preis für das eleganteste Outfit zu gewinnen. Niemand wird merken, wenn du jeden Tag gleich aussiehst. Eine lange Wanderung ist ein prima Übungsfeld, um eine Uniform für deinen Alltag zu finden. Bevorzuge Funktionskleidung, die schnell trocknet oder mehrfach getragen werden kann. Stimme die Auswahl deiner Kleidung auf dein Vorhaben ab. Die lange Jeans und das Hemd kannst du wieder im Büro tragen. 

# 6: Gib deine Vorstellungen vom Weg auf und bleibe im Moment
Der Weg ist, wie er ist. Es gibt keinen anderen Weg, als den, der vor dir liegt. Also schau ihn dir genau an und bleibe nicht in deiner mentalen Vorstellung vom Weg haften. Du hast dir den Weg am Seeufer entlang als sonnigen Spaziergang vorgestellt, aber die konkrete Erfahrung zeigt dir einen schmalen und steilen Steig, der dich in der Mittagshitze herausfordert? Herzlich Willkommen in der Realität. Verabschiede dich von deiner inneren Landkarte, sei mutig und erlaube dir eine Erfahrung im Hier und Jetzt zu machen. So kannst du die Lebendigkeit in jeder Faser deines Körpers spüren.

# 7: Beobachte das Wetter und die Bedingungen
Das Wetter kann sich in den Bergen sehr schnell verändern. Sei wachsam für die Entwicklung der Wolken am Himmel. Übervorsichtig zu sein, ist nicht hilfreich. Nicht jede Wolke kündigt ein Gewitter an. Wenn du aber ambossartige Wolkentürme siehst, dann prüfe, wo es auf deinem Weg eine Hütte gibt, bei der du dich unterstellen könntest. Wenn Metall anfängt zu flirren, deine Haare fliegen und du Donner hörst, suche dir auf schnellstem Weg einen trockenen Unterschlupf (Kriechstrom!). Bei diesen Bedingungen ist jederzeit mit einem Blitzeinschlag in deiner Nähe zu rechnen.
Wenn ein Weg gesperrt ist, halte dich an den Hinweis auf dem Schild. Nimm die Alternativroute, auch wenn es länger dauert. Du musst dir nicht beweisen, dass du dich durch unbekanntes Terrain durchschlagen kannst, wo die Wege durch Steinschlag unpassierbar sind. Lass deinen Plan los und erlaube dir einen sicheren Weg zu gehen (Siehe Punkt 2). 
Wenn dir Kühe auf deinem Weg begegnen, bleib geduldig und warte ab. Auch sie wollen nur ihren Weg gehen und dein Weg wird bald wieder frei sein. Wenn die Kühe aufgeregt sind, bleib geduldig und warte ab. Sie werden sich beruhigen und du wirst deinen Weg fortsetzen können. Sind die Kühe gelassen und du fühlst dich wohl dabei, kannst du deinen Weg weitergehen. Bleibe immer in Kontakt mit deinem Bauchgefühl. Spürst du eine Aufregung oder Unruhe im Bauch, nimm lieber einen Umweg in Kauf, als dein Leben zu riskieren. Vielleicht ist der vermeintliche Umweg auch der stimmigere Weg.

# 8: Unterschätze nicht die Bedeutung einer guten Vorbereitung
Bereite dich körperlich auf die Wanderung vor und trainiere, wenn du die Möglichkeit dazu hast. Nutze Wanderungen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade als willkommene Möglichkeit der Vorbereitung. Kleine Herausforderungen und Rückschläge, helfen dir dabei, auch die größeren Schwierigkeiten im Leben mit Gelassenheit zu meistern. Der Bus fährt dir vor der Nase weg? Wunderbar, du kannst dich darin üben zu gehen. Der Fahrstuhl ist schon wieder defekt? Nimm die Treppe. 
Wenn du gewohnt bist, dich in unwegsamen Gelände zu orientieren, ist das hilfreich. Auch das kann man trainieren. Die Zeichen im Gelände solltest du ebenso wie analoge und digitale Karten lesen können. Ein Verständnis für Entfernungen hilft dir, dein Ziel zu erreichen. 
Wenn du eine Alpenüberquerung planst, überlege dir genau, mit welchen Schuhen du gehen möchtest. Wasserdichte Wanderstiefel sind unbedingt zu empfehlen. Wenn du noch keine Wanderstiefel hast, kauf dir welche, die sich bequem an deinem Fuß anfühlen. Sie dürfen auch etwas größer sein, denn deine Füße werden anschwellen. Aber tu deinen Füßen und deiner Willenskraft den Gefallen und laufe die Wanderstiefel ausreichend ein. Gehe niemals mit neuen Wanderstiefeln auf eine herausfordernde Tour. Die Trainingstouren sind der ideale Ort, um deine Schuhe einzulaufen. 

# 9: Setze einen Fuß vor den anderen
Egal, wie lang dein Weg und wie weit entfernt dein Ziel ist. Du wirst den Weg nur gehen können, wenn du beginnst. Ein paar Gedanken zur Vorbereitung sind gut. Doch der wirkliche Weg beginnt dann, wenn du einen Fuß vor den anderen setzt. Und dann wirf deine Planung über Bord und lass dich mit voller Kraft auf das Leben ein.

Berlin, 17.7.2019