Ein Jahr geht zu Ende. Ein neues Jahr beginnt.
Ein neuer Monat. Eine neue Woche. Ein neuer Tag. Ein neuer Moment. Jetzt.
Innehalten. Pausieren. Durchatmen. Sich erholen von der Hektik der Vorweihnachtszeit. Früher war da mal so etwas wie Magie, die in dieser Zeit lag. Der Weihnachtsbaum stand im Wohnzimmer und war mit Sternen und Figuren aus Stroh geschmückt. Der bunte Teller mit frischen Haselnüssen, Mandarinen und Schokolade stand darunter. Ein bisschen silbernes Lametta gab es auch. Dazwischen klemmten die goldgelben Lampen der Lichterkette in ihrer grünen Fassung. Mein Vater hatte sie gefärbt, so dass unser Weihnachtsbaum mit bunten Lichtern erstrahlte. Am späten Abend, wenn er ins Bett ging, drehte er immer eine Lampe aus der Fassung und trennte sie so vom Strom. Wenn ich am Morgen – wie zu dieser Zeit sehr häufig – vor allen anderen wach war, schlich ich mich immer leise ins Wohnzimmer und suchte die Lampe, die ich drehen musste, um die Beleuchtung des Weihnachtsbaumes einzuschalten. In meiner Erinnerung gab es nur eine blaue Lampe an dieser Lichterkette. Genau diese war es auch, die er meistens dafür nutze.
Und nun stand ich in diesem unglaublich großen Altbauzimmer vor dem großen Baum und suchte nach der Lampe, die die Lichterkette zum Strahlen brachte. Manchmal brauchte ich ein paar Versuche, aber ich schaffte es immer. Ich drehte an dieser Lampe – und der Baum leuchtete auf.
Was ich damals an diesen frühen Morgenstunden im Wohnzimmer machte, würde ich heute mit dem Begriff Selbstwirksamkeit beschreiben. Wenn wir die Dinge im Griff haben, fühlen wir uns kraftvoll. Wenn wir die Abläufe des Lebens steuern können, fühlen wir uns stark. Wenn es uns gelingt Verhalten vorherzusagen und mit unser Vorhersage recht behalten, fühlen wir uns mächtig.
Vielleicht kommt dir jetzt der Gedanke, dass so eine Lichterkette am Weihnachtsbaum doch keinen Unterschied machen kann. Nun, ich würde sagen – ja und nein. Sicherlich ist es keine große Sache im Leben eines Menschen, dass wir an einer Lampe drehen und sich das Licht einschaltet. Was soll da schon für ein positiver Effekt für das Leben daraus erwachsen? Du hast recht, es ist nur ein Moment. Aber immerhin war es der Weihnachtsbaum, den ich so zum Strahlen brachte. Auf der anderen Seite sind es genau diese Momente, diese kleinen und unscheinbaren Momente, die uns dabei helfen, die Eigenschaften zu entwickeln, die wir für ein glückliches Leben brauchen. Zu diesen Eigenschaften gehört Selbstwirksamkeit unbedingt dazu.
Wenn ich mich als wirksam erlebe, gibt mir das Kraft. Erlebe ich mich hingegen nur als Spielball der Umstände, an denen ich ja doch nichts ändern kann, lähmt mich das und macht mich schwach. Manche Menschen üben sich dann im Klagen über die Umstände und die Ungerechtigkeit der Welt.
Breathe – don’t sigh.
Um Selbstwirksamkeit zu entwickeln, gibt es viele Wege. Wie so oft im Leben haben wir auch hier manchmal vergessen, wieviele Möglichkeiten es gibt. Statt der Vielfalt der Wege kennen wir nur noch die Monokultur des Geistes. Unser Gehirn ist zu einer Autobahn geworden, die zwar schnell und fehlerfrei zwei Punkte miteinander verbindet – aber die Erfahrungen, die Vielfalt und Variation ermöglichen, verhindert.
Der bekannteste Weg zu mehr Selbstwirksamkeit sind sicherlich die großen Erfolgserlebnisse: Der bezwungene Berggipfel. Die weite Tour durch das Gebirge. Der abgeschlossene 66-Seen-Weg. Nicht immer gibt es diese Art von Meilensteinen in unserem Leben, wenn sich unser Alltag eher am Schreibtisch abspielt. Dann ist es das beendete Projekt. Die Steigerung beim Laufen am Abend. Der bezwungene Berg Geschirr. Der Sieg gegen den Hausstaub. All das sind Erfolgserlebnisse – oder etwas genauer: All das könnten Erfolgserlebnisse sein, wenn wir sie als solche wahrnehmen würden. Doch wie machen wir das meist im Alltag? Wir sehen diese Dinge als „lästige Pflicht“ an und schieben sie manchmal länger auf, als es uns gut tut.
Wie so oft im Leben, sind es die kleinen, manchmal unscheinbaren Situationen in unserem Alltag, die sich summieren und zu dem werden, was uns ausmacht. Wir sind unsere Gewohnheiten. Mit Gewohnheiten meine ich unsere Muster im Handeln, Denken, Fühlen und Wahrnehmen. Es kann lohnend sein, sich mit den eigenen Mustern auf all diesen Ebenen auseinanderzusetzen. Das ist etwas, was wir beim Praktizieren von Achtsamkeit üben.
Bereits als Kind war es mir wichtig, mich als handlungsfähig zu erleben. Diese Haltung zieht sich wie ein Muster durch mein Leben. In der letzten Woche habe ich mir ein ganz besonderes Geschenk gemacht: Ich habe mein erstes Möbelstück gebaut. Es ist ein einfaches Regal aus Holz. Ich habe es entworfen und das Material besorgt. Ich habe es zusammengebaut, geschliffen und geölt. Wenn ich diesen Konstruktionsprozess mit einem Wort beschreiben sollte, würde ich Selbstwirksamkeit dazu sagen. Auch hier begleitet mich das Zitat von Maeterlinck einmal wieder: Um diesen Prozess wirklich zu beschreiben, braucht es mehr als ein Wort – und auch dann bleibt die Beschreibung weit hinter der Erfahrung zurück.
Berlin, 2.1.2019