Ein kritisches Lebensereignis ist ein universeller Stressfaktor, der bei jedem Menschen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit hohen Stress auslöst. Und weil diese kritischen Lebensereignisse so universell sind, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben alle Menschen betreffen können, finden sich in der einschlägigen Fachliteratur Listen, die in einem Ranking kritische Lebensereignisse nach Belastungshöhe sortieren.
Insgesamt liest sich diese Liste wie eine Aufzählung von Erfahrungen, auf die man gern verzichten möchte: eine eigene schwere Erkrankung oder eine schwere Diagnose im sozialen Umfeld, der Verlust von nahen Angehörigen, Trennung und Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes. Ziemlich weit oben stehen dort aber auch Ereignisse wie ein Umzug und der Beginn einer neuen Stelle. Beides sind Ereignisse im Leben eines Menschen, die erwünscht sein können – dennoch lösen sie Stress aus.
Doch wie kann es sein, dass uns Ereignisse belasten, die wir uns selbst ausgesucht haben? So ein Umzug stellt alles auf den Kopf. Und das ist ganz wörtlich gemeint: Kein Stein bleibt auf dem anderen. Alle Dinge werden in Kisten gepackt, Möbel zerlegt und in die neue Behausung gebracht. Dort steht dann alles kreuz und quer durcheinander: Einlegeböden neben Zimmerpflanzen, Tischbeine neben dem Sofakorpus, Schreibtischcontainer neben den Säcken mit dem Bettzeug. In den Kisten sieht es nicht besser aus: Zur Gewichtsoptimierung liegt Kleidung neben Büchern oder zwischen Tellern und Tassen, wenn die Packseide ausgegangen ist. Die letzten Vorräte und Gläser mit Eingewecktem werden mit allem kombiniert, was irgendwie leichter ist. Sperriges und Schweres wechseln sich ab. Es ist das reinste Chaos.
In der neuen Wohnung müssen dann erstmal neue Plätze geschaffen werden, an denen die Dinge verstaut werden sollen. Möbel werden zusammengebaut. Wer Glück hat, findet beim Einzug bereits einige Einbaumöbel vor und eine Küche, in der er die ersten Dinge verstauen kann. Und dennoch herrscht erstmal blankes Chaos, denn für jedes Ding muss ein Platz gefunden werden. Doch der lässt sich sinnvoll erst dann finden, wenn sich das Leben in der neuen Wohnung ausgebreitet hat. Sonst bleibt jeder gewählte Platz künstlich.
Mit dem Auspacken beginnt zwangsläufig die Offlinezeit. Plötzlich gibt es wichtigere Dinge zu tun, als die E-Mails zu bearbeiten. Alles dreht sich darum, möglichst schnell wieder ein Zuhause zu schaffen, einen Platz, an dem man sich wohlfühlen kann. Einen Ort, der Behaglichkeit ausstrahlt – und nicht nur eine Ansammlung von offenen Projekten ist, die mahnend oder anklagend schauen, wenn man die Wohnung betritt. Nein, es soll ein Ort sein, den man gern als sein Zuhause bezeichnet. Die digitale Welt wirkt in dieser Zeit seltsam uninteressant. Auch die sozialen Netzwerke wie Instagram, Facebook und Co. liegen brach. Stattdessen wird geschraubt und ausgerichtet, gesägt und konstruiert. Man verbringt die Zeit mit analogen Dingen.
Dazu kommt meistens noch ein begünstigender Faktor: Das Internet funktioniert noch nicht. Der Techniker hat die Verbindung vom Netz in die neue Wohnung noch nicht gelegt: Wir sind nicht „drin“, wir sind offline. Zum Glück, möchte man fast sagen, wenn man erstmal den ersten Schock des Offline-Seins verkraftet hat und nach und nach die positiven Effekte der analogen Tätigkeiten erfährt. Dennoch möchte ich die Zeiten des guten alten Telefonbuches nicht zurück.
Doch diese Erinnerungen an die vermeintlich gute, alte Zeit nützen nichts. Das Leben findet im Hier und Jetzt statt. Und jetzt, jetzt sind wir offline. Wenn man sich auch für diesen Zustand interessieren kann, ist es ziemlich spannend zu beobachten, was passiert, wenn wir offline sind. Aus dem „Ich wünschte es wäre anders.“ wird bald ein „Oh, da gibt es ganz neue Möglichkeiten“. Es gibt die Möglichkeit analoge Dinge zu machen. Dabei sind die Möglichkeiten, die einem analoge Tätigkeiten bieten gar nicht neu. Wir nutzen sie nur oft nicht. Wenn also im absoluten Chaos des Umzugs kein Stein auf dem anderen liegt, bleiben einem immer noch die analogen Tätigkeiten. Doch was gehört eigentlich zu den analogen Tätigkeiten?
Gesprächskultur und Beziehungen
„Komm doch mal rüber, Mann und setz dich zu mir hin / weil ich offline bin…“ – so formuliert es der Künstler Retrogott in seinem Titel „OFFLINE“, der – man möchte es kaum glauben – im Jahr 2018 erschienen ist. Im Song finden sich noch weitere Zeilen, die in die selbe Kerbe schlagen: „Wir können reden, reden, reden – ganz lange meinetwegen / ich hab Zeit, weil ich offline bin…“ und „Zwischenmenschlicher Fortschritt / alle E-Mails bleiben heute unbeantwortet“.
Wieviel Lebenszeit frisst Onlinezeit? Und wieviel davon ist nur ein minderwertiger Ersatz für einen echten Austausch zwischen zwei Menschen, die sich im Leben wirklich begegnen? Der Wert der anregenden Gespräche am Küchentisch, über die Themen, die uns selbst und die Welt bewegen, kann gar nicht zu hoch eingeschätzt werden. Doch wie oft sind die smarten Telefone als second screen mit dabei. Statt gemeinsam mit seinem Gegenüber nach Erkenntnissen zu forschen und in die Tiefe zu gehen, bleibt man kleben an den Schlagzeilen der sozialen Netzwerke und reißerischen Medienangebote. Die Kommunikation verflacht. Statt sich mit seinem Gegenüber auszutauschen und sich gemeinsam spiralförmig mit einem Thema intensiv auseinanderzusetzen, jagt man kleinen Informationshäppchen hinterher, die suchmaschinenoptimiert und aufmerksamkeitswirksam aufbereitet sind.
Reparatur und Handwerk
Wenn wir Dinge mit unseren Händen gestalten und reparieren können, macht das glücklich. Die Küche mit Kücheninsel, die ich für die neue Wohnung konstruiert habe, hat mir das deutlich gezeigt. Auch der Rest der Küche ist durch die Hände der Menschen entstanden, die hier leben: Es waren diese Hände, die den Ausschnitt für die Spüle und das Loch für die Mischbatterie in die Arbeitsplatte aus hartem Buchenholz gesägt haben. Sie haben auch die Mischbatterie angeschlossen. Waschmaschine und Geschirrspüler laufen auch tadellos – trotz der Besonderheiten, die es aufgrund der baulichen Situation zu beachten gab. An der Decke hängen Lampen. Jede einzelne von ihnen ist fest an der Decke verankert.
Früher ist nach einem Einzug immer mein Vater in jede meiner Wohnungen gekommen und hat sich um diese Dinge gekümmert. Bepackt mit Werkzeug und einer stabilen Leiter hat er – ohne zu murren – an jeder noch so hohen Altbaudecke die Lampen angebracht. Er hat es für mich gemacht, auch wenn er die Leuchten, die ich mir dafür ausgesucht hatte, vielleicht hässlich fand. Ich erinnere mich noch, wie er über die Bausubstanz schimpfte, wenn ihm mal wieder Stroh und Putz beim Einbringen der Dübel entgegenkamen. Ich habe ihm oft dabei zugeschaut. Heute mache ich es selbst. Trotzdem freue ich mich, wenn er seine Erfahrung mit mir teilt und mir erklärt, wie das mit der Phase ist und welchen Neigungswinkel es bei Abwasserrohren braucht, damit alles reibungslos abläuft. Seinen Ideenreichtum habe ich gewissermaßen geerbt. Bei uns zuhause gibt es daher ziemlich viele kreative Lösungen, die erst nach einigen Denkschleifen und längeren Denkpausen entstanden sind. Kreativität braucht Muße und Raum.
Vor etwas mehr als 12 Monaten habe ich den Möbelbau für mich entdeckt. Ich hatte genug davon, immer wieder in den Geschäften nach Möbeln zu suchen, die genau in diese ganz bestimmte Nische in der Wohnung passten. Oft genug gab es auch Nischen in einem Format, an das bisher kein Möbelhersteller gedacht hatte.
Bei vielen meiner Ideen war es nicht anders: Oder kennst du einen Bausatz für einen Fenstergarten, der in ein zwei Meter hohes Altbaufenster passt? Ich nicht. Also habe ich mich kurzerhand dazu entschlossen diesen Fenstergarten selbst zu bauen. Er hat mich ein gutes Jahr in verschiedenen Stadien begleitet.
Dabei habe ich entdeckt, dass es für mich besonders reizvoll ist, mit den vorhandenen Ressourcen zu arbeiten und diese immer wieder neu an die sich ändernden Bedürfnisse und Gegebenheiten anzupassen. Ganz konkret bedeutet das, dass ich Möbel baue, um sie für einen bestimmten Zweck zu nutzen. Soweit so gut. Das Besondere daran ist, dass ich bemerkt habe, dass sich im Leben die Bedürfnisse oft ändern und sich daher auch der Bedarf an Möbeln regelmäßig ändert. Leider sind die meisten industriell gefertigten Möbel nur für einen Zweck konstruiert. Ein Billy-Regal ist ein Billy-Regal. Diese Möbel können zwar zerlegt werden, aber erfüllen immer nur einen Zweck. Zum Glück gibt es gerade für IKEA-Möbel bereits einige Literatur und Webseiten, die sich mit der Änderung und Anpassung der Nutzung von solchen Möbelstücken beschäftigen. Unter dem Stichwort IKEA DIY Hack findet man hierzu jede Menge Inspirationen auch online.
Bei den Möbeln, die ich entwickele, ist eine Zweitnutzung meist schon mitgedacht. In jedem Fall werden die Möbel so konstruiert, dass das Material wiederverwendet werden kann. Wie das Leben selbst unterliegen bei uns auch die Möbel dem ständigen Wandel. Durch diese Art der Konstruktion entsteht für mich eine ganz besondere Schönheit.
Wenn man sich dafür interessiert, kann man der Veränderung der meisten eigenen Interessen und Bedürfnisse zuschauen. Manches bleibt ziemlich lange stabil, anderes erscheint ziemlich kurzlebig. Nach dieser Methode wurde der Fenstergarten zum Beispiel schon zu einem Pflanzenfenster, auf dem alle Pflanzen während einer Reise mit Licht und Wasser versorgt wurden. Später habe ich dieses Pflanzenfenster dann zu einem zweiten Fenstergarten an einem kleineren Fenster umgebaut. Im Spätsommer wurde er zu einem stabilen Küchenregal, an dem ich Kräuter trocknete, die eingeweckten Vorräte lagerte und Joghurt zubereitete. Jetzt sind Teile des Materials zu einem Hochbeet geworden. Alles ändert sich – und nichts geht verloren. Durch die Beobachtung meiner Bedürfnisse über eine längere Zeit gelingt es mir immer mehr, die Bedürfnisse zu erkennen, die sehr fest und stabil sind. Die Möbel, die ich für diese Bedürfnisse baue, begleiten mich dann eine längere Zeit. Die Kücheninsel gehört zum Beispiel zu diesen Möbeln. Dass ich mich irgendwann nicht mehr für die kreative Verarbeitung von Lebensmitteln interessieren werde, erscheint mir sehr unwahrscheinlich. So ist die Kücheninsel stabil gefertigt. Jedoch steht sie auf Rollen, damit sie innerhalb der Wohnung für verschiedene Zwecke genutzt werden kann: Neben ihrer Nutzung in der Kücheninsel wird sie so zum mobilen Buffet, zur Werkbank für meine Holzarbeiten, ist eine zusätzliche Arbeitsfläche im Arbeitszimmer und in der Gartensaison ein guter Arbeitstisch zum Umpflanzen.
Auch hierfür braucht es Zeit und Muße, in der eine Idee entstehen und reifen kann – und eine Gelegenheit. Es braucht den Ausflug in die analoge Welt, um Inspirationen zu sammeln und im rechten Moment auf diesen Fundus an kreativen Erfahrungen zurückgreifen zu können. Ich erinnere mich gern an die vielen Stunden, die ich in Bibliotheken verbracht habe, um Bücher nach Ideen für Möbel und Inneneinrichtung zu durchsuchen. Es gab auch unzählige Stunden, die ich damit verbracht habe, online nach Ideen zu recherchieren. An diese erinnere ich mich jedoch kaum.
Dennoch braucht es eine Gelegenheit, um aktiv zu werden. So war es jedenfalls bei mir: Das erste Möbelstück, das ich gebaut habe, ist aus Resten entstanden, die ich in einem Baumarkt um die Ecke entdeckt habe. Für fünf Euro ist daraus ein schlichtes und wahnsinnig stabiles Regal entstanden, was bei uns ziemlich viele Küchenutensilien beherbergt. Diese Schlichtheit strahlt für mich eine ganz besondere Schönheit aus. Dieses Möbelstück wird uns noch eine ganze Weile begleiten.
Kürzlich hatte ich auch die Gelegenheit, eine Kommode zu reparieren. Die Offline-Zeit hat mir viel Zeit und Maße verschafft und der alten Kommode zu einem neuen Leben verholfen.
Gartenarbeit und Gemüseanbau
Genauso war es beim Garten: Wieviele Gärten ich durchkreuzt habe, bevor wir unseren eigenen Kleingarten gestalten konnten, kann ich nicht mehr sagen. Natürlich habe ich auch online nach Inspirationen geschaut, wenn es gerade keine Gelegenheit gab, um durch die Gärten der Welt zu stöbern.
Auch bei der analogen Gartenarbeit gab es in den letzten Jahren immer wieder Versuche, sie zu digitalisieren: Vom digital geplanten Anbauplan bis hin zu einem Garten, der von einer Kamera überwacht und vom heimischen Bildschirm aus beobachtet werden kann, gibt es inzwischen fast alles. Die Gartenarbeit bleibt dennoch eine analoge Tätigkeit. Denn das Pflanzen der Jungpflanzen, das Auflockern des Bodens und das Ausgeizen der Tomatenpflanzen wird immer noch von Hand gemacht. Diese Arbeit kann man bei diesen digital-gesteuerten Gärten dann an die Gärtner*innen vor Ort auslagern und erhält auf Knopfdruck und Bestellung nur die Kisten mit „dem eigenen Gartengemüse“ nach Hause geliefert.
Wenn man diese Entwicklung sieht, möchte man fast aufgeregt rufen, wie eine Mutter, die ihr Kind auf einem Spielplatz vor einem Unfall bewahren möchte: „Nein, mach das nicht!“ Doch hier geht es natürlich nicht darum, mögliche Verletzungen zu verhindern. Vielmehr geht es darum, nicht dem Irrtum zu erliegen, dass digital geerntetes Gemüse den gleichen Wert hat wie analog angebautes und gepflegtes Gemüse.
Sicherlich schlägt der Geschmack dieses Gemüses um längen die Produkte der Massenproduktion, die in den Supermärkten angeboten werden. Doch das, was in analog angebautem Gemüse steckt, ist viel mehr als nur der Geschmack: Es ist die Liebe, die Aufmerksamkeit und die Zeit, die mit der Kultivierung verbracht wurde. Das Gemüse, mit dem wir uns nähren, hat so einen Nährwert, der über die Kalorien und den Geschmack hinausgeht. Wir nähren damit jede Zelle unseres Körpers.
All das steckt für mich in Gartenarbeit. Man braucht dafür kein Internet und zum Glück kann man den Anbau von Gemüse fast zu jeder Jahreszeit betreiben. Natürlich hat alles im Leben seine Zeit und so ist es im Sommer deutlich einfacher, sich mit selbstangebautem Gemüse zu versorgen. Aber auch im Winter kann man an einem hellen Fenster einen kleinen Fenstergarten pflegen, Sprossen in Gläsern züchten oder mit Pflanzenlampen Kräuter und Salate wachsen lassen.
Mit den Händen in feuchter Erde zu wühlen, einen großen Misthaufen umzuschichten, Bäume zu schneiden, Rankgerüste für Bohnen und Blumen zu bauen, Obst zu ernten und Bienen zu betrachten – all das sind Tätigkeiten, die dem Sommer vorbehalten sind.
Und so hat alles im Leben seine Zeit und ist gleichermaßen wertvoll. Nur manchmal erschließt sich uns dieser Wert nicht auf den ersten Blick. Zunächst erzwungene Offline-Zeit lässt Raum für analoge Dinge entstehen. Plötzlich bekommt man wieder Zeiten der Muße geschenkt, die einem gar nicht fehlen konnte, weil sie so unbekannt waren. Man sucht nicht mehr alles im Internet, sondern nutzt die Dinge und Bücher, die in den Regalen stehen. Wenn Dinge gerade nicht verfügbar sind, erschafft man sie selbst. Die permanent verfügbare Internetverbindung hat gestreamte Musik zur Normalität werden lassen. Jetzt füllt Stille den Raum. Lang nicht gehörte MP3-Alben und Mixe aus einer längst vergangenen Zeit, werden auf kabelgebundenen Lautsprechern gehört, die lange Zeit nutzlos im Schrank lagen. Es werden Geschichten erzählt und Erinnerungen geteilt, Pläne geschmiedet und Projekte entwickelt. Kreativität füllt den Raum.
Offline-Zeit schafft Platz für die Dinge, die wirklich wichtig sind. Und diese Qualitätszeit bedeutet für mich Lebensqualität. Es ist an der Zeit für analoge Tätigkeiten.
Berlin, 1.1.2020