Seit dem vergangenen Herbst sind mir immer häufiger Steckrüben begegnet. Heutzutage ist es kein besonders populäres Gemüse. Ich kenne Steckrüben schon viel länger, habe sie jedoch in der Gemüseabteilung des Supermarkts immer links liegen gelassen. Es ist ein eher unscheinbares Wurzelgemüse. Falls du nicht weißt, wie eine Steckrübe aussieht: Steckrüben haben eine eher runde Form. Manche von ihnen haben eine gelbliche, andere eine schlichte violette Schale. Sie liegt immer ganz in der Nähe von Knollensellerie, Wirsing-, Weiß- und Rotkohl. Wirklich, die Gesellschaft ist nicht besonders fancy. Wenn du also gerade bei den Physalis, Kumquats und Limetten bist, musst du dich eigentlich nur umdrehen und in die Ecke der Gemüseabteilung laufen, die von dir am weitesten entfernt ist. Dort wirst du mit Sicherheit fündig werden.
Weil die Steckrübe nicht mehr so beliebt ist, wird sie immer seltener angebaut. Um darauf aufmerksam zu machen, war sie 2017 und 2018 Gemüse des Jahres. Wusstest du das?
In den letzten Wochen sind mir Steckrüben wieder häufiger auf dem Feld und auch im Supermarkt um die Ecke begegnet. Irgendwann habe ich dann endlich eine gekauft und meinen ersten Steckrübeneintopf gekocht. Daraus entspann sich eine interessante Begegnung, die fast zu einem Gespräch über die Kulturgeschichte der Steckrübe wurde.
Steckrüben gehören zu den sehr alten Gemüsesorten. Sie wachsen einen ganzen Sommer lang und können von September bis Mai geerntet werden. Die Steckrübe ist also ein klassisches Wintergemüse. Wie Möhren und Kartoffeln kann man sie gut einlagern. Das war wichtig in einer Zeit, in der nicht immer alle Lebensmittel zur Verfügung standen.
Die Steckrübe hat viele Namen: Man nennt sie Runke, Runkelrübe oder auch Kohlrübe. Im Norden ist die Steckrübe auch als „Wruke“ bekannt. Dort gibt es dann Wrukeneintopf. Irgendwoanders im Norden gibt es Steckrübenmus. Nicht jede Familie hat ihr eigenes Rezept für die Verarbeitung von Steckrüben – aber jede Familie, die ich kenne, hat eines.
Warum ist das so? Nun, Steckrüben waren in Zeiten von Hunger und Krieg ein sehr wichtiges Gemüse. Steckrüben haben die Ernährung der Bevölkerung gesichert. Die Steckrübe hat nämlich eine ganz besondere Eigenschaft: Sie hat keinen besonders ausgeprägten eigenen Geschmack und nimmt besonders gut den Geschmack von anderen Zutaten an. Wenn du also nicht genügend Kartoffeln und Möhren für dein Püree hast, nimmst du eine Steckrübe dazu und kannst eine ganze Familie satt bekommen. Schneidest du sie in einen Möhreneintopf, nimmt sie den Geschmack von Möhren an.
„Sie ist das ideale Gemüse, um die Gemüsemasse eines Gerichtes zu erhöhen.“ Noch immer spüre ich ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, wenn ich diesen Satz in meinen Gedanken höre. „Sie ist das ideale Gemüse, um die Gemüsemasse eines Gerichtes zu erhöhen.“ Ja, das ist sie, denn wir alle haben eine Vergangenheit, in der Krieg und Hunger eine Rolle gespielt haben. Oft sind diese Erfahrungen verblasst oder wurden vergessen, um die nachfolgenden Generationen zu schützen. Doch die Erinnerungen sind da. Wie sonst sind die Emotionen zu erklären, die bei mir entstehen, wenn jemand einen Satz sagt, der ganz offensichtlich nichts mit meiner eigenen Erfahrung zu tun hat: Ich kenne keinen Hunger – aber mein Körper und meine Familie kennen diesen Zustand schon.
Die Reaktion, die spürbar wird, ist eine Reaktion auf eine Vorstellung, die weit über das Hier und Jetzt hinaus geht. Die rein faktische Aussage ist nämlich völlig korrekt: Mit einer Steckrübe erhöht man die Gemüsemasse eines Gerichtes, denn sie ist ziemlich groß. Mehr ist es nicht, was rein faktisch in diesem Satz steckt. Den Rest geben meine Gedanken und Vorstellungen hinzu: Krieg, Hunger, Not. All das entsteht in meinem Kopf nur in der Vorstellung. Es ist erstaunlich, wie allein eine Vorstellung unangenehme Gefühle solchen Ausmaßes hervorbringen kann. Diesen Zusammenhang klar zu erkennen und nicht diesem erdrutschartigen Fluss der Gefühle folgen zu müssen, ist sehr hilfreich. So erkennt man einen Gedanken als das, was er ist: Ein Gedanke.
Es ist nachvollziehbar, dass die Steckrübe heute nicht mehr zu den populären Gemüsesorten gehört. Sie erinnert viele Menschen zu sehr an eine Zeit, in der es ihnen oder ihren Familien sehr schlecht ging. Eine Zeit, an die man sich nicht mehr erinnern möchte. Manchmal erinnert man sich auch nicht mehr daran. Dennoch sollten wir die Steckrübe würdigen für das, was sie unseren Familien – und damit auch uns – geschenkt hat: Unser Leben.
Berlin, 9.1.2020