Ich gehe oft mit einer ziemlich hohen Geschwindigkeit durch meinen Alltag. Manchmal verliere ich dadurch den Blick für die Details aus meiner Umwelt. Dennoch bleibe ich oft genug stehen, um innezuhalten und den Moment wertzuschätzen. Manchmal sind es prächtige Kirschblüten, ein anderes Mal ist es ein vermeintlicher Gegensatz, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Diese kleinen Momente im Alltag machen mich glücklich.
Beim Wandern in der Natur gehe ich langsamer als im Alltag. Mein Langzeitdurchschnitt beim Wandern liegt bei guten vier Kilometern pro Stunde – einschließlich der Pausen. Mich interessiert die Tiefe der Erfahrung, die für mich mit der Langsamkeit entsteht – und nicht die Schnelligkeit mit der sich die Landschaft verändert.
Immer wieder bemerke ich beim Gehen, dass mich etwas anzieht. Eine prächtig gewachsene Pflanze, eine Spiegelung im Wasser, der Geruch von Baumharz oder das erfrischende Gezwitscher eines Vogels. Irgendetwas zieht immer meine Aufmerksamkeit auf sich. An sattgrünem Moos ist es mir bisher noch nie gelungen vorbeizugehen ohne zu staunen. Wenn ich Baumpilze sehe, kann ich meine Begeisterung nur schwer bremsen. Ich genieße es, diesen Impulsen zu folgen. Oft bleibe ich dafür stehen, um den Moment ganz auszukosten. Ich sauge die Erfahrung mit allen Sinnen auf. Ich bin dann eins mit der Erfahrung.
Vor etwa zwei Jahren habe ich bei einer Radtour durch Mecklenburg-Vorpommern ein Wohnmobil entdeckt. Es trug die Aufschrift „Glücksmobil“. Ich freute mich sehr darüber. Augenblicklich stellte ich mir vor, was die Menschen, die mit dem Wohnmobil reisen, wohl besonders glücklich macht. Was waren wohl die Momente, die sie meinten, als sie das Fahrzeug „Glücksmobil“ getauft haben? Erleben sie diese Momente auch heute noch so erfüllend? Haben sich die Momente, in denen sie glücklich sind, im Laufe des Lebens verändert? Welche Glücksmomente haben sie selbst nachhaltig verändert? Ich machte ein Foto von dieser Aufschrift und freute mich darüber. In Trainings verwende ich häufig Fotos für bestimmte Übungen. Das Foto vom Glücksmobil ist immer mit dabei. Als ich an dem Wohnmobil stand und das Foto machte, fuhr jemand mit dem Auto vorbei, hielt an, ließ das Fenster herunter und rief mir zu: „Du hast wohl zu viel Zeit!“. Dann fuhr das Auto weiter. Ich nehme mir gern die Zeit für Dinge, die mir wichtig sind. Ich genieße es, wenn ich einen Moment mit allen Sinnen erleben kann. Es macht mich glücklich, wenn ich einen Moment voll und ganz auskosten kann. Später habe ich in Büchern über die Entstehung von Glück auch gelesen, dass auch genau diese innere Haltung glücklich macht und sich z.B. durch Achtsamkeit kultivieren lässt.
Eine Haltung, die mir auch immer wieder begegnet, ist die, dass uns Technik von der konkreten Erfahrung entfernt. Erklärt wird dieser Effekt oft so: Wenn man ein Foto von einen Moment macht, um ihn festzuhalten, dann schiebt sich die Linse der Kamera wie ein Filter zwischen die Situation und die Person. Die Erfahrung verflacht. In meinem Alltag habe ich das Gegenteil beobachtet. Die Intensität meiner Erfahrung steigt, wenn ich die Möglichkeit habe, den Moment festzuhalten. Indem ich ein Foto von einer vermeintlich unscheinbaren Pflanze mache, bekommt sie eine größere Bedeutung für mich. Das Quaken der Frösche festzuhalten, richtet meine Aufmerksamkeit auf den Moment. Das Knarren der Bäume zu hören und aufzunehmen, erfüllt mich mit Freude. Es macht mich glücklich, wenn ich mir die Fotos oder Tonaufnahmen dieser Momente dann zuhause anhören kann. Dann sitze ich mit Kopfhörern und geschlossenen Augen da und lausche. Wenn es mir gelingt, ein einzigartiges Naturschauspiel einzufangen, wiederholt sich die Freude jedes Mal, wenn ich die Aufnahme anhöre. Das habe ich kürzlich überprüfen können, als ich den kräftigen Flügelschlag eines Schwans erfahren und aufnehmen konnte. Glück entsteht aber auch bereits während der Aufnahme selbst. Ich stehe dann ganz still im Wald und lausche dem Flug der Vögel, wie sie immer wieder in Ellipsen über den See kreisen und dabei Geräusche von sich geben, die auch einem Science-Fiction-Film entstammen können. Durch das Aufnehmen selbst, vertieft sich meine Erfahrung des Moments.
Eine ähnliche Erfahrung mache ich auch, wenn ich fotografiere. Ich betrachte den Moment durch die Linse des Fotoapparats und wähle einen Ausschnitt, der mir gefällt. Das habe ich als Kind schon gern gemacht. Ich besaß als Kind eine Kleinbildkamera, mit der ich die Welt entdeckte. Ich liebte es, durch den Sucher der Kamera zu schauen und einen Ausschnitt auszuwählen. Dann drückte ich den Auslöser – es klickte. Mit dem Daumen drehte ich dann ein Zahnrad nach rechts, um den innenliegenden Film weiterzudrehen. Dann war der Apparat bereit für die nächste Aufnahme. Auf diese Weise holte ich Schmetterlinge ganz dicht in mein Leben, aber auch die violette Blüte vom Schnittlauch im Garten, wo sich immer klitzekleine, schwarze Käfer tummelten. Den majestätischen Spitzahorn, der mitten im Garten thronte, konnte ich nie vollständig einfangen. Er war einfach zu groß für die begrenzte Linse meines Fotoapparats. Vielleicht wurde bereits in diesem frühen Moment mein Interesse nach Wachstum und Entwicklung geweckt. Ich war ganz stolz auf meinen Fotoapparat. Es war kein Kinderfotoapparat, sondern ein richtiger Fotoapparat für Erwachsene. Dass er nur selten mit einer Filmrolle bestückt war, war für mich nicht wichtig. Mir ging es um den Moment des Fotografierens – nicht um den Abzug auf Papier. Filmrollen waren damals recht teuer und man fotografierte in meiner Erinnerung auch viel zurückhaltender. Die Rollen mit den 24 oder 36 Bildern mussten eine Weile halten. Ich erinnere mich noch, wie ich später vor Urlaubsreisen versuchte abzuschätzen, wieviele Fotos ich wohl machen würde und die entsprechende Zahl an Filmrollen mitnahm. Heute fotografiere ich mit einer digitalen Spiegelreflexkamera oder zur Not mit meinem Telefon. Eine Begrenzung gibt es nur noch durch die Größe der Speicherkarten oder der Festplatten. Allerdings bin ich noch nie an einen Ort gefahren, um mit einem Foto zu dokumentieren, dass ich dort gewesen bin. Für mich steht an erster Stelle die konkrete Erfahrung. Manchmal halte ich diese Erfahrung dann mit einem Foto oder einer Audioaufnahme fest. Mich unterstützt das dabei, eine noch tiefere Erfahrung zu machen.
Ein Gedanke aus der systemischen Perspektive sagt, dass Menschen sich in ihrem Verhalten gegenseitig beeinflussen. Nichts geschieht im sozialen Vakuum. Sobald Menschen das Verhalten von anderen Menschen sehen, reagieren sie in einer bestimmten Art und Weise darauf. In welche Richtung sich der Effekt auswirkt, lässt sich nicht vorhersagen. Dass er entsteht schon. Kürzlich war ich in einem Naturschutzgebiet, wo es möglich war viele und auch sehr seltene Vögel zu beobachten. In meiner Vorstellung hörte ich schon ein vielstimmiges Zwitschern und Trillern bezaubernder Vogelarten und malte mir aus, was ich dort wohl so alles sehen und hören würde. Als ich dort ankam, erschrak ich. Im Vogelpark wimmelte es nur so von Menschen. Manche von ihnen waren still und hatten Ausrüstung dabei, die sie als ornithologisch interessiert auswies. Sie kamen, um die Vögel zu beobachten. Die meisten anderen Menschen unterhielten sich jedoch lautstark in größeren Gruppen oder telefonierten. Keine Spur mehr von der Stille und dem leisen Singen seltener Vogelarten, wie ich es mir in meinen Gedanken vorgestellt hatte. Mich irritierte das. In einen Vogelpark zu gehen und laute Geräusche zu machen, passte für mich nicht zusammen. Auf einer Holzbrücke blieb ich stehen, weil ich einen Frosch hörte, der auf eine Art zur Balz lockte, die mir ganz unbekannt war. Ich blieb stehen und hörte ihm zu. Immer wieder liefen lärmende Menschengruppen vorbei. Der Frosch verstummte. Ich blieb ruhig stehen und lauschte. Dann zeigte er sich wieder. So ging es ein paar Mal. Es war wie ein Tanz. Ich war so fasziniert von seinem Quaken, dass ich mein Aufnahmegerät herausholte, um seine Lockrufe festzuhalten. Ich startete die Aufnahme. Menschen liefen gackernd vorbei. Der Frosch verstummte erneut. Dann war plötzlich Stille. Der Frosch traute sich wieder aus seinem Versteck und setze zu seinen Lockrufen an. Ich blickte mich um. Plötzlich liefen die Menschen ganz still an mir vorbei. Wenn sie in Gruppen unterwegs waren, flüsterten sie kaum hörbar. Manche gaben sich redlich Mühe, kein einziges Geräusch von sich zu geben. Auf Zehenspitzen schlichen sie an mir vorbei. Das einzige, was manchmal zu hören war, war das Knarren der Holzdielen der Brücke.
Es hatte sich offenbar herumgesprochen, dass ich dort eine Tonaufnahme machte und die Menschen nahmen Rücksicht. Ich freute mich über diesen Moment. Der Frosch quakte mit voller Leidenschaft. Ich lauschte seinem Gesang. Und all die anderen Menschen, die an mir in diesem Moment vorbeigingen, konnten ebenfalls Zeuge dieses Naturschauspiels werden.
Berlin, 03.06.2019