Wie so oft sind es die schwierigen Situationen im Leben, die lehrreich sind und uns wachsen lassen. Seit knapp vier Monaten bin ich nun in selbstgewählter Quarantäne. Ich bin zuhause und verlasse die Wohnung nur dann, wenn es notwendig ist. In manchen Wochen verlasse ich sie sogar weniger, als mir gut tut. Auch wenn draußen gerade alle drei Ampeln auf „grün“ stehen, ist mir klar: Ich möchte nicht am Coronavirus erkranken. Es gibt aktuell nur sehr wenige Neuinfektionen – gut. Die Zahl der Personen, die durch einen erkrankten Menschen angesteckt werden, ist niedrig – wunderbar. Die Auslastung der verfügbaren Intensivbetten ist weit von ihrer Kapazitätsgrenze entfernt – auch gut.
Doch diese drei grünen Ampeln bedeuten für mich nicht, dass nun alles wieder in Ordnung ist. Für mich haben sie eine andere Bedeutung: Wenn ich am Coronavirus erkranken würde und einen schweren Verlauf hätte, gäbe es einen Platz auf der Intensivstation für mich. Das Gesundheitssystem würde alles für mich tun, was es tun kann, um mein Leben zu erhalten. Soweit so gut.
Doch ich möchte nicht auf einer Intensivstation landen. Du vielleicht?! Also bleibe ich zuhause. Ich bleibe zuhause, auch wenn es mir schwer fällt. Ich bleibe zuhause, auch wenn ich noch nie so viel Zeit am Bildschirm verbracht habe wie jetzt. Ich bleibe zuhause, auch wenn ich meinen Klient*innen lieber face-to-face begegnen würde. Ich bleibe zuhause, weil ich mein Leben liebe.
Ich kann gut nachvollziehen, dass sich viele von uns ein Stück Normalität zurückwünschen. Doch das Virus ist noch da – und es gibt immer noch weder eine Impfung noch eine Therapie. An der rein medizinischen Situation hat sich also nichts geändert. In den vier Monaten, in denen wir nun mit dem Coronavirus leben, wurden viele Studien durchgeführt. Dadurch konnten wir besser verstehen, wie die das Virus funktioniert. Wir wissen, dass es meist von Mensch zu Mensch übertragen wird. Wir wissen auch, dass sich etwa 50% durch Tröpfchen infizieren, 40% durch Aerosole und 10% durch Schmierinfektionen. Wir wissen, dass der Mund-Nasen-Schutz wirksam ist und die Eindämmung des Virus unterstützt. Die Infektion über Türklinken und Griffe wurde schon oft besprochen, macht jedoch nur 10% der Fälle aus. Doch was ist mit den verbleibenden 40% der Infektionen durch Aerosole? Aerosole entstehen beim Atmen und beim Sprechen. Wenn wir laut sprechen, verlassen besonders viele Aerosole den Mund. In geschlossenen Räumen ist bei schlechter Belüftung die Gefahr besonders groß, sich anzustecken. Geschlossene Räume und Menschenansammlungen werden damit zu einem Hochrisikobereich. Und sie sind ein Risiko, das man vermeiden kann.
In der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion begegnen uns verschiedene Haltungen zum Thema. Natürlich, denn das Thema ist so komplex wie das Leben selbst. Im Homeoffice zu arbeiten, dabei Kinder zu betreuen und den eigenen Anforderungen an alle Rollen zu genügen, ist hart. Es ist leichter auf Kontaktbeschränkungen zu bestehen, wenn man in einer Partnerschaft ist. Allein zu leben und nur menschlichen Kontakt über Bildschirme zu haben, ist ungewohnt. Auch wenn virtuelle Pizza- und Lunch-Dates schon fast zur neuen Normalität gehören, unterscheiden Sie sich von dem, was wir kennen. Allein solche alltäglichen Situationen fordern unsere Veränderungsfähigkeit heraus.
Kommen dann noch wirtschaftliche Probleme oder existentielle Sorgen hinzu, wird es noch schwieriger. Viele von uns sind in Kurzarbeit. Wieviele von uns werden ihren Arbeitsplatz verlieren? Die Unsicherheit sitzt immer mit am Tisch. Partnerschaften ohne Kinder haben es leichter, wenn auch nicht leicht. Man wächst zusammen oder begegnet einander im nächsten Konflikt. Wem will man es übel nehmen, denn die Nerven liegen blank. Das alles ist sehr menschlich.
Und dann sind da noch die Menschen, für die der Alltag so weitergeht wie bisher. Wenigstens der Job hat sich nicht verändert. Was macht es für einen Unterschied, ob man im Büro acht Stunden am Rechner sitzt oder zuhause? Nun, es macht einen Unterschied. Zurückgedrängt ins Private, wird es schwer am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Der menschliche Austausch fehlt. Die Black Lives Matter-Demonstrationen sprechen eine deutliche Sprache. Wie hilflos muss sich ein Mensch fühlen, der Ungerechtigkeit erlebt und nichts dagegen tun kann? Verzweifelt werden im Minutentakt die Nachrichten aktualisiert. Das Telefon ist das einzige Fenster nach draußen.
Und dann stehen diese Menschen auf und begeben sich in Gefahr. Sie riskieren ihr Leben, weil sie nicht mehr apathisch zuschauen können, nicht mehr wollen. Sie stehen ein für ihre Werte und versammeln sich mit anderen, um etwas zu tun. Menschen aller Hautfarben versammeln sich. Schwarze und Weiße demonstrieren gemeinsam. Die Zeiten des Schweigens sind vorbei.
Andere Menschen können die nächsten Lockerungen gar nicht erwarten. Die Geschäfte sind wieder geöffnet. Endlich kann wieder anprobiert werden. Auch das Gemüse kann wieder selbst ausgesucht werden. Nudeln und Toilettenpapier sind in den Läden verfügbar.
Mit jeder Lockerung kommt ein Versprechen von Normalität. Doch nie war der Unterschied zwischen Vorstellung und Realität so deutlich spürbar wie jetzt: Im Restaurant vereinzelt zu sitzen, ist nicht das, was man sich vorgestellt hat. Das Gefühl mitten im Leben zu sein, möchte sich einfach nicht einstellen. Wo die Angst ist, fehlt das Lebendige.
Doch das Virus ist real. Die Auflagen sind da. So ganz ungetrübt kann niemand in diesen Umständen sein frisch gezapftes Bier und das liebevoll zubereitete Gericht genießen. Wurden die Gläser auch richtig abgewaschen? Zweifel stellen sich ein.
Manche Unternehmen schließen ihre Geschäfte wieder. Auch wenn die Auflagen sinnvoll sind: Wirtschaftliches Arbeiten ist unter den aktuellen Bedingungen für viele nicht möglich. Die ersehnte Normalität rückt wieder in die Ferne.
Wie muss sich all das, was gerade unseren Alltag ausmacht, für Menschen anfühlen, die zu einer Risikogruppe gehören? Menschen, die es sich nicht erlauben können, auf einer Intensivstation zu landen. Menschen, die einen angeborenen Herzfehler haben. Menschen, die mit einem Spenderorgan leben. Menschen, die mit chronischen Krankheiten leben und Medikamente nehmen müssen, die das Immunsystem unterdrücken.
Im März sind wir alle auch angetreten, um diese Risikogruppen zu schützen. Wir sind zuhause geblieben, um die Kurve abzuflachen und das Infektionsrisiko für alle zu senken. Und jetzt? Wie steht es vier Monate später um unsere Solidarität? Zu einer Risikogruppe zu gehören, wird in diesen Tagen zum Stigma. Wir werden nicht verpflichtet zuhause zu bleiben. Dafür gibt es zwar Empfehlungen, aber keine klaren Regeln von den Behörden. Wir müssen für uns selbst sorgen. Jede*r ist nun selbst angehalten zu prüfen, was für sie*ihn jetzt möglich erscheint.
Wie steht es um mein Immunsystem? Gibt es Grund zur Annahme, dass mein Immunsystem stabil ist, so dass ich einen schweren Verlauf wahrscheinlich tolerieren kann? Gibt es Anzeichen dafür, dass ich einen leichten Verlauf haben würde?
All das sind Spekulationen. Wir wissen nichts davon sicher. Es gibt Studien, die erste Schlüsse zulassen, dass es schützend sein kann, einer bestimmte Blutgruppe anzugehören oder bereits früher an einem ähnlichen Virus erkrankt zu sein. Doch was davon weißt du sicher?
Kann ich es mir erlauben, zuhause zu bleiben? Wenn der Job es in irgendeiner Form erlaubt, sollte die Antwort immer ein klares JA sein. Viele Arbeitgeber*innen entlasten ihre Mitarbeitenden, indem sie Homeoffice nicht nur ermöglichen, sondern es ausdrücklich empfehlen oder sogar anordnen. Das erleichtert es vielen, gut für sich zu sorgen.
Aber was ist mit all den Menschen, die nicht auf einen fürsorglichen Arbeitgeber zählen können? Diese Menschen müssen selbst entscheiden, was ihnen jetzt möglich ist. Und diese Entscheidung immer wieder neu prüfen.
Im Kern stellt sich in dieser Situation die schlichte Frage: Wieviel ist mir mein Leben wert? Welchen Preis hat mein Leben?
Berlin, 10.06.2020