Wie Spiegelneuronen unser Handeln beeinflussen.

Wie Spiegelneuronen unser Handeln beeinflussen.

Bis zu 15.000 Menschen passieren diese Kreuzung in einer Ampelphase

Zum Jahresende wird es immer ziemlich hektisch. Doch wer wird da eigentlich hektisch? Am Ende sind es wir selbst, die entscheiden, ob wir hektisch werden – oder in unserem eigenen Rhythmus bleiben. So könnte es jedenfalls sein. Doch auch, wenn wir es eigentlich anders haben möchten, breitet sich Hektik in unserem Leben aus. Wie kommt das?
Eine Erklärung könnten die Spiegelneuronen liefern. Spiegelneuronen hat jeder Mensch – allerdings ist die Ausstattung sehr unterschiedlich. Je mehr dieser Nervenzellen wir haben, umso mitfühlender sind wir und können uns besser und genauer in andere Menschen hineinversetzen. Vielleicht kennst du das vom Gähnen: Wenn Menschen in unserer Umgebung gähnen, steckt das an und wir müssen selbst auch gähnen.
Vielleicht wendest du jetzt ein, dass es möglich ist das Gähnen zu unterdrücken, weil du es schonmal so erlebt hast. Damit hast du absolut recht. Man kann das Gähnen unterdrücken. Dennoch vollzieht sich eine Art automatische, reflexhafte Handlung und es braucht Willenskraft, um deren Ausführung zu stoppen. Meist bemerken wir den Impuls zu Gähnen in uns und folgen ihm – oder entscheiden uns, den Impuls zu unterdrücken. Was es braucht, ist ein gewisses Maß an Bewusstheit und eine Entscheidung.
Wenn wir nun auf die Ausgangsfrage zurückkommen, wie es zur Hektik am Jahresende kommt, dann könnten die Spiegelneuronen eine erste Erklärung dafür liefern: Wir werden hektisch, weil andere Menschen auch hektisch werden. Wir passen uns dem Tempo unserer Umwelt an. Vielleicht wollen wir mithalten. Vielleicht wollen wir den anderen auch nicht enttäuschen. Die Ausstattung mit Spiegelneuronen erlaubt es uns in besonderer Art und Weise zu spüren, welchen Effekt unser Handeln auf unser Gegenüber hat. Sage ich ja und ermögliche ich diese eine Sache, dann freut sich mein Gegenüber. Sage ich nein und vereitele diese eine Sache, dann ist mein Gegenüber enttäuscht.
Spiegelneuronen unterstützen uns im Alltag bei vielen Aktivitäten. Dazu gehört auch das vorausschauende Fahren und das Vorhersehen von Reaktionen unseres Gegenübers. Vielleicht kennst du die spektakuläre Kreuzung in Shibuya / Tokio. Dort laufen pro Ampelphase bis zu 15.000 Menschen über die Straße und trotz dieser hohen Dichte an Menschen und vielen Touristen, die das Spektakel mit dem Handy festhalten, gibt es dort kaum Kollisionen.

Ist dein Gehirn eine Autobahn – oder gibt es viele Möglichkeiten?

Die Höhe unserer Ausstattung mit Spiegelneuronen entscheidet darüber, wie stark wir die Gefühle unseres Gegenübers auch selbst spüren. Menschen mit einer geringen Ausstattung an Spiegelneuronen haben weniger Skrupel, wenn sie andere Menschen verletzen – durch Worte oder Taten. Eine hohe Ausstattung an Spiegelneuronen erleichtert sozialverträgliches Verhalten.
Bei Spiegelneuronen gilt übrigens die gleiche Regel, wie bei allen anderen Nervenzellen: Was nicht benutzt wird, bildet sich zurück.
Es scheint fast so, als wäre das minimalistische Prinzip – Does it still add value to my life? – fest in unsere Körper eingeschrieben. Darin steckt für mich viel Positives: Was ich in meinem Leben behalten möchte, sollte ich nutzen. Damit ist wirklich alles gemeint: Körpersubstanz, Gedanken, Dinge.
Wenn ich viel sitze und meine Beinmuskeln nicht nutze, bilden sie sich zurück. Wenn ich besonders viel Ärger empfinde, treten sich die Wege zum Ärger sehr stark aus – und die Zugänge zu anderen Emotionen wachsen immer mehr zu. Wenn ich alle meine Lebensmittel im Onlineversand bestelle, schränkt das meine sinnliche Wahrnehmung ein. Ich kann die verschiedenen Grüntöne vom Gemüse nicht mehr unterscheiden und beraube mich der verschiedenen Gerüche der Produkte. Vielleicht wäre mir so ein „Fehlkauf“ erspart geblieben. Wenn ich vor zehn Jahren einmal Körbe aus Peddigrohr geflochten habe und dies seitdem nicht mehr getan habe, kann ich das übrig gebliebene Material jemandem geben, der es jetzt (!) gebrauchen kann. Wenn ich die Informationen, auf denen meine Entscheidungen basieren, aus einer Quelle beziehe und nicht mehr selbst recherchiere und mir meine eigenen Gedanken über die Dinge mache, verlernt mein Gehirn das eigenständige Denken. Kurz: Wenn ich nicht mehr denke, verblöde ich. Oder – um es noch drastischer zu sagen – wenn ich nicht mehr denke, bin ich tot.
Das gilt übrigens auch für Gewohnheiten und dort – zum Glück – auch in beide Richtungen. Wenn ich bestimmte Gewohnheiten nicht mehr ausübe, verschwinden sie aus meinem Leben. Das gibt Zuversicht für die Neujahrsvorsätze. Es zeigt aber auch, dass sich sehr regelmäßige Gewohnheiten und Verhaltensmuster so stark einprägen wie eine Autobahn in eine weite Landschaft. Anstatt einer Vielfalt der Wege und Möglichkeiten herrscht dann gewissermaßen Monokultur und ein vermeintlich richtiger, weil kürzester Weg. Soweit die Erklärung aus der Neurobiologie.

Neben der biologischen Ausstattung gibt es jedoch auch Wege, um die Fähigkeit zu mehr Mitgefühl zu entwickeln. Ich bin also nicht auf meine biologische Ausstattung festgelegt, sondern kann selbst etwas dafür tun, um sie zu entwickeln.
Eine dieser Möglichkeiten mehr Mitgefühl zu entwickeln, ist das Praktizieren von Achtsamkeit. Achtsamkeit ist das bewusste (!) Wahrnehmen vom dem, was ist. Das besondere am Achtsamkeitstraining ist, dass ich durch das regelmäßige Üben nicht nur meine Fähigkeit zu Mitgefühl ausbaue, sondern gleichzeitig auch meine Abgrenzungsfähigkeit entwickle. Dies scheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein, denn im Leben kommt alles als Paar: Tag und Nacht, Regen und Sonnenschein, Leben und Tod.
Wenn ich Achtsamkeit praktiziere, dann ermöglicht es mir nach und nach Entscheidungen zu treffen, die auf meinen Werten basieren. So gewinne ich meine Freiheit zurück. Ich lerne mich abzugrenzen und Nein zu sagen, wenn ich Nein meine. Denn in diesem Nein steckt ein – zunächst zögerliches, später dann sehr deutliches – Ja zu mir selbst. Jede Achtsamkeitsübung wird dadurch zu einem radikalen Akt der Selbstliebe – und keine Erfüllung einer extern auferlegten Pflicht.

Berlin, 1.1.2019